„Peer Gynt“ zum Zweiten

Die sechste Vorstellung von Spoerlis Hit-Produktion

oe
Zürich, 02/12/2007

Das wollte ich denn doch noch ein bisschen genauer wissen. Die sechste Vorstellung von Spoerlis Hit-Produktion – ausverkauft, wie die bisherigen fünf – wie die vier weiteren bis Mitte Februar (dann folgen noch zwei bei den Festwochen im Juni). Mir geht es immer darum, dass die Leute in die Vorstellungen gehen – ganz gleich, was die Kritiker darüberschreiben. Und die Zürcher scheinen inzwischen sich mit ihrem Ballett ebenso zu identifizieren wie die Stuttgarter, die Hamburger und die Münchner mit dem ihren (und die Berliner sind auf dem besten Wege dazu). Das ist doch eine hoch erfreuliche Entwicklung, die hier einmal ausdrücklich festgehalten werden soll.

Übrigens apropos „Peer Gynt“ werde ich doch tatsächlich gefragt, wann ich denn nun zu „Peer Gynt“ nach Rom fahren würde. Ich habe keine Ahnung (und auch nicht die Absicht – wer soll das bezahlen, die Leute glauben ja immer, dass man die Spesen ersetzt kriegt und dann auch noch ein saftiges Honorar kassiert – obgleich weder das eine noch das andere zutrifft). Also Rom: dort hat Renato Zanella offenbar kürzlich seine „Peer Gynt“-Version präsentiert – mit Carla Fracci als Mutter Ase und Egon Madsen als alterndem Peer. Habe ich sonst noch nirgends in unseren deutschsprachigen Gazetten gelesen.

Was nun Spoerli betrifft, so ist dieser „Peer Gynt“ zweifellos sein bisher ambitioniertestes Unternehmen – auch sein choreografisch reichstes. Mit einem fulminanten, ich möchte fast sagen: genialen ersten Teil, dessen Inspirationshöhe der zweite Teil dann nicht durchgehend beibehält, der aber durchaus noch ein paar tolle Höhepunkte bietet, die Wüste von Marocco beispielsweise, mit den fabulösen Sandaufwirbelungen, die einfach auch ein optischer Genuss sind, dann der Verführungstanz Anitras, Florian Ettis goldblitzende ägyptische Hieroglyphen-Tafel, den Trauertanz Solveigs (alias Yen Han), die nächtlichen Visionen Peers, wenn er die Hauptgestalten seines Lebens nochmals Revue passieren lässt, und dann die Grablegung von Peers Alter Ego (der Schauspieler Sebastian Hülk), in der diese – wie ich sie nennen möchte – dramatische Sinfonie für Tänzer, Orchester, Chor und Solisten hinüberwächst in ein Mysterium, das mich an die Grablegung in „Faust II“ erinnert: Und das ist genau die Dimensionserweiterung, die Spoerli der Stoff- und Musikvorlage von Ibsen und Grieg hinzugewonnen hat, und die diesen Zürcher „Peer Gynt“ in eine Linie mit Schumanns „Szenen aus Goethes ‚Faust‘“, mit Mendelssohns „Walpurgisnacht“ und Berlioz‘ „Fausts Verdammnis“ stellt.

Womit ich mich weniger befreunden kann, sind die nervös zuckenden Gesellschaftstänze der Party-Gäste in der Wüste (Kolonial-Engländer in ihren Kakhi-Uniformen?), sind dann vor allem die ewigen Händeschütteleien im Irrenhaus, sind die Rollen des Doktor Begriffenfeldt, des Knopfgießers und des Todes, die mir auch beim zweiten Sehen nicht einleuchteten (so sehr Vahe Martirosyan als Tod-Tänzer auch beeindruckt). Was mir aber auch bewusst wurde, ist die wichtige Rolle des Gleichnisses von der Häutung der Zwiebel – und ihrer verblüffenden Aktualität im Zusammenhang mit dem kürzlich erschienenen Erinnerungsband „Vom Häuten der Zwiebel“ von Günter Grass – eine merkwürdige Koinzidenz der Erscheinungsdaten von Grassens Buch und Spoerlis Ballett.

Doch, wie gesagt, die anfänglichen Hochzeitstänze mit dem Brautraub und den – wie ich meine – rein fiktiven Folklore-Schritten eröffnen das Ballett derart rasant, dass man aus dem Staunen nicht herauskommt – aus dem Staunen auch, mit welch einer Vehemenz sich die Kompanie, und besonders die fabulöse Jungen-Equipe in diese Tänze und ihren Eskalations-Drive stürzt. Und dann die Troll-Tänze vor der Ettischen Spiegelwand, wie die ins Unheimliche wachsen und schließlich in die schwarze Höllenmesse münden, mit Arman Grigoryan als satanischem Trollkönig. Das entfaltet eine Dynamik, die wahrlich atemberaubend ist.

Und mittenmang immer dieser blonde Peer aus Nowosibirsk, Semyon Chudin, ein Hüne mit so weitfliegenden Sprüngen wie ein norwegisches Ski-Ass, dem Spoerli die unmöglichsten akrobatisch-artistischen Stunts abverlangt, in der Luft wie schlitternd am Boden. Da erlebt man wieder, wie theatralisch aufregend eine Ballettproduktion sein kann. Und dann dagegen gesetzt die selbstlose Liebe und die eine wundersam selbstsichere Ruhe ausstrahlende Yen Han als Solveig (Inbegriff weiblicher Vertrauensseligkeit – ganz eins werdend mit der engelhaften melodischen Süße, mit der Sandra Trattnigg ihr Schlaflied intoniert. Welch ein Theaterabend – welch eine Kompanie: wohnte ich in Zürich, ich wäre unter Garantie abermals in einer der Folgevorstellungen!

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