Von Zürich aus die Welt erobernd

Die Spoerlische „Peer Gynt“-Produktion jetzt auch auf DVD

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Stuttgart, 27/10/2009

Offenbar lässt sich das Publikum seinen Spaß am großen Handlungsballett nicht nehmen. Ginge es nach der Mehrzahl der Kritiker, wäre es schon lange abgeschafft. Doch nicht nur die abendfüllenden Klassiker locken die Leute ins Theater, auch die neuen Werke beweisen nach wie vor ihren Überlebenswillen. Wo stünde das Stuttgarter Ballett ohne „Romeo“, „Onegin“ und „Widerspenstige“? Dabei sind es nicht nur die der Literatur oder der Oper (manchmal sogar auch dem Film) entlehnten Stoffe, sondern die Choreografen holen sich ihre Anregungen, wo immer sie ihrer habhaft werden – und sei es ihre Phantasie. Siehe Forsythes „Artifact“, siehe Kyliáns „Zugvögel“. Es ist wahr, nicht viele Choreografen haben den großen Atem für ein abendfüllendes Stück. Aber es muss ja auch nicht immer ein ausufernder Dreiakter sein. Eine der spannendsten Kreationen der jüngsten Zeit ist Neumeiers „Le Pavillon d´Armide“, der gerade mal eine Stunde dauert – doch hinterher meint man, einen ganzen Abend im Theater verbracht zu haben, nicht, weil es so langweilig war (das kommt natürlich auch vor), sondern weil es mit einer auch nicht eine Minute nachlassenden Spannung aufgeladen ist.

Eins der besten Handlungsballette der jüngeren Vergangenheit ist Heinz Spoerlis vor zwei Jahren mit dem Zürcher Ballett herausgebrachter „Peer Gynt“, von dem jetzt eine hervorragende DVD erschienen ist (BelAir Classiques BAC050, 110 Minuten – demnächst wohl auch im Fernsehen). Ein idealer Stoff in seiner kontrastreichen Szenenfülle, eine tolle Produktion (Musik von Edvard Grieg, dazu Anthony Turnage und Brett Dean), eine vielgestaltige Choreografie (Spoerli), eine farbenprächtige Ausstattung (Florian Ettl), mit dem Zürcher Ballett, dem Orchester der Oper Zürich, dem Zusatzchor des Opernhauses nebst Gesangssolisten, dirigiert von Eivind Gullberg Jensen, Lichtgestaltung von Martin Gebhardt, die Titelrolle besetzt mit dem Tänzer Marijn Rademaker und dem Schauspieler Philipp Schepmann. Ich hätte mir lediglich ein etwas detaillierteres Rollenverzeichnis der beteiligten Tänzer gewünscht, denn genannt werden lediglich Yen Han als Solveig, Ana Carolina Quaresma als Ase, Juliette Brunner als Ingrid, Julie Gardette als Anitra, Arman Grigoryan als King of the Mountain, Sarah-Jane Brodbeck als The King of the Mountain´s daughter und Vahe Martirosyan als Tod – sie sind vermutlich alle im Abspann aufgelistet, aber der rollt so schnell ab, dass man mit dem Mitschreiben nicht mitkommt – und hätten doch alle eine namentliche Erwähnung verdient, denn das Hauptereignis ist das fabelhafte Zürcher Ballett, das Spoerli dort in bisher zwölf Jahren aufgebaut hat (eine Ära, die mit der Spielzeit 2011/12 zu Ende geht– während man bisher noch nichts gehört hat, was der dann sein Amt als neuer Intendant des Zürcher Opernhauses antretende Andreas Homoki mit dem Ballett vorhat).

Die Doppelbesetzung der Titelrolle mit einem Tänzer und einem Schauspieler ermöglicht Spoerli, ihren Charakter zu vertiefen durch Einbeziehung monologischer Passagen des originalen Ibsen-Textes. Er tritt hier also nicht, wie sonst so oft, als Erzähler auf, sondern gewissermaßen als Alter Ego. Und so schickt ihn Spoerli auf seine Reise um die Welt – aus der dörflichen Abgeschiedenheit bei seiner Mutter Ase und seiner Geliebten Solveig, die er verlässt, ein Abenteurer und Fantast, ein Störenfried, der einbricht in die Hochzeitsfeierlichkeiten und sich mit der Braut Ingrid aus dem Staube macht, die er aber umgehend verlässt, gerät in die Bergwelt der Trolle, verliebt sich sogleich wieder in die Tochter des Bergkönigs, sucht aber auch hier schleunigst wieder das Weite und landet in Marokko, wo er sich mit zweifelhaften Freunden einlässt und den Reizen der verführerischen Anitra erliegt, lässt sich als Prophet feiern, wird von seinen angeblichen Freunden ausgeplündert und sitzengelassen, zieht weiter nach Ägypten, plant dort sein eigenes Reich Gyntiana zu gründen, wird als Kaiser gekrönt, wobei sich ihm die Sinne verwirren und er schließlich im Irrenhaus landet, um sich von dort, sehnsuchtszerfressen auf die Heimreise zu begeben. wobei sein Schiff auf stürmischer See kentert, er aber doch mit dem Leben davonkommt, um zu Hause zum Begräbnis seiner Mutter zu kommen, wo Solveig all die Jahre treu auf ihn gewartet hat, die er gleichwohl abermals verlässt, um allein in eine ungewisse Zukunft zu schreiten.

Das ist ein ungeheures Programm, das Spoerli mit den unterschiedlichsten stilistischen Mitteln bewältigt. Glänzend sind die klassisch mit folkloristischen Akzenten versehenen Tänze bei den Hochzeitfeierlichkeiten, ein fulminanter Auftakt mit vielen brillanten Soli und großzügigen Gruppenarrangements, skurril gespenstisch die grotesken Tänze in der verspiegelten Höhle des Bergkönigs (explosive Männerensembles), während ich mich für die ringelpietzartigen Gesellschaftstänze der Kolonialgesellschaft in Marokko weniger begeistern kann, die diversen Soli dort aber im aufgewirbelten Wüstensand einen ganz eigenen Reiz haben. Ägypten ist ein weiterer genialer Bühneneinfall von Ettl mit seiner drehenden Menoniten-Säule (auch sein späteres Meeresbild suggeriert mit einfachsten Mitteln dichteste atmosphärische Kompaktheit – von berückender Schönheit die reinen Farben). Etwas banal die Bücher studierenden Historiker, das ständige Händeschütteln und die doch sehr klischeehaft gezeichneten Insassen des Irrenhauses.

Später gerät die Handlung etwas ins Schlingern, zum Beispiel die Figur des Knopfgießers, aber dann sind da immer wieder die eindrücklichen Soloszenen, etwa für den martialisch auftretenden Tod und beim Begräbnis der Mutter. Geschickt auch die Kameraführung und die differenzierte Beleuchtung, wenn die reale Gestalt und der imaginierte Partner miteinander tanzen. Wie denn überhaupt die ganze Produktion tänzerisch aus allen Nähten birst. Es ist einfach eine Lust, zu sehen, mit welch einem Heißhunger sich die Tänzer in ihre Rollen stürzen, Energiebündel sie alle, als ob sie mit Bolschoi-Serum gedopt worden seien. Was für eine Männer-Equipe! Ich wünschte mir, Spoerli würde sich für seine Abschiedssaison noch „Le Corsaire“ vornehmen!

Den Peer tanzt in dieser Aufnahme Marijn Rademaker als Gast aus Stuttgart – eine Idealbesetzung – so blond wie nur ein (holländischer) Norweger sein kann. Charmant, ja charismatisch, ein Schwarm nicht nur für Teenies, dabei ein formidabler Virtuose, ob er nun gleichsam durch die Luft segelt (und schön sacht landet), Multi-Pirouetten dreht, Sand aufwirbelnd durch die Wüste schlürft, sich kräftemäßig animalisch mit den Trollen misst oder den unwiderstehlichen Latin Lover spielt. Wie er denn überhaupt die vielen Rollen seines so unerhört reichen Lebens voll ausspielt: ein Tanzschauspieler comme il faut! Ein Tänzer, der hier die Rolle seines Lebens gefunden hat. Das abendfüllende Handlungsballett eine aussterbende Gattung? Spoerli und seine Zürcher Tänzer liefern den vitalitätssprühenden Gegenbeweis!

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