In jeder Beziehung eine Ausnahmeerscheinung

Marcia Haydée zu ihrem heutigen 70. Geburtstag

oe
Stuttgart, 18/04/2007

Es muss wohl dieses absolut einmalige Amalgam aus brasilianischer Herkunft und schwäbischem Heimatgefühl sein, das sie zu der Ausnahmeballerina hat werden lassen, die sie ist. Denn wenn Marcia Haydée heute siebzig Jahre alt wird, ist klar, dass es eine Ballettfrau wie sie nie zuvor gegeben hat – nicht in Südamerika und nicht in Europa (noch sonst irgendwo auf der Welt). Andere Ballerinen sind wie sie mit einer Gala zu ihrem Jubiläumsgeburtstag gefeiert worden – aber von keiner ihrer eminenten Kolleginnen kann man sagen, dass sie noch im siebzigsten Jahr so häufig auf der Bühne gestanden hat wie sie – aber was heißt hier gestanden, wo doch ihr ganzes Bühnenleben ein einziges Bewegungsleben war und ist. Und so haben wir sie in der laufenden Spielzeit noch in vier so verschiedenen Rollen wie Bournonvilles Hexe Madge, Béjarts Madame und Mutter Teresa sowie als Bigonzettis Mama Rosaria erleben können.

In keiner dieser Rollen hat sie die Erfahrungen ihres Lebens auf so ganz und gar persönliche Weise einbringen können wie in der alten Ballettlehrerin in „Gaîté parisienne“, die in ihrer Darstellung eine geradezu matriarchalische Dimension gewinnt als Huldigung an all die Generationen altersloser Pädagoginnen über die Jahrhunderte in den Ballettsälen rund um die Welt. In den zu ihrem Geburtstag erscheinenden Artikeln wird wieder einmal ihre einzigartige Karriere gebührend gewürdigt, deren einzelne Stationen aufzulisten wir uns hier ersparen können. Aber wird jemand daran erinnern, dass sie und Alicia Alonso (Jahrgang 1920 und noch immer Chefin des kubanischen Nationalballetts) die einzigen Ballerinen aus Süd- und Mittelamerika sind, die eine Weltkarriere gemacht haben? Allenfalls kann man in diesem Zusammenhang noch die Chilenin Lupe Serrano (Jahrgang 1930 und eine formidable Virtuositätstechnikerin, auch beim American Ballet) nennen – aber sie ist schon im neuen „Oxford Dictionary of Dance“ ebenso wenig vertreten wie im „Dictionnaire de la Danse“ von Larousse.

Und wer denkt heute schon noch an eine andere Brasilianerin Beatriz Consuelo oder an die Argentinerin Olga Ferri, die in den fünfziger Jahren in europäischen Kompanien (auch beim Berliner Ballett) getanzt haben? Wenn aber Alicia Alonso (die heute, fast erblindet, nur noch gelegentlich in Sondervorstellungen auftritt, geleitet von farbkräftigen Punktscheinwerfern) und Marcia Haydée die beiden einzigen iberoamerikanischen Ballerinen von Weltrang sind, so unterscheiden sie sich doch in wesentlichen Punkten. Alonso repräsentierte immer den Typ der reinen klassisch-akademischen Ballerina – mit Giselle und Odette-Odile als ihren größten Rollen. Sie hat zwar auch Uraufführungen von Balanchine, Tudor und de Mille getanzt – und eine Glanzrolle ihrer späteren Jahre war die Carmen in Alberto Alonsos Version des Schtschedrin-Balletts (das war 1967, da war sie also 47) – doch das große Paradoxon ihres Lebens ist, dass sie zu einer Ikone des romantischen Balletts ausgerechnet in Castros revolutionärem Kuba wurde.

Auch Haydée hat im Laufe ihrer langen Karriere die großen klassischen Ballerinenrollen getanzt, von Giselle über Swanilda, Odette-Odile, Aurora, Raymonda – allerdings nie die Sylphide, auch nicht die Zuckerfee im „Nussknacker“ und ebenso wenig die Nikia in „La Bayadère“). Doch womit sie sich in die Weltgeschichte des Balletts eingeschrieben hat, war ihre Zusammenarbeit mit John Cranko als Julia, Tatjana und die widerspenstige Katharina (weniger ihre Carmen), war ihre zusammen mit John Neumeier kreierte Kameliendame und ihre Blanche in „Endstation Sehnsucht“, waren ihre Dutzende von Partien in Balletten von Béjart, MacMillan, van Manen, Tetley, Forsythe, Scholz, Zanella, Blavier und all den anderen Junioren der Stuttgarter Noverre-Matineen – waren mithin alles Rollen, die sie als eine der profiliertesten Tanzaktricen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts über den Typ der klassischen Ballerina hinauswachsen ließen (wobei man durchaus danach fragen kann, ob sie sich in ihrer künstlerischen Liaison mit ihrem brasilianischen Kollegen Ismael Ivo einen Gefallen getan hat).

Tatsächlich sieht man sie eher in der Linie der Sarah Bernhardt, der Eleonora Duse, der Edwige Feuillère und der Callas als in der Nachfolge der Taglioni, der Grisi, der Pawlowa und Spessivtseva – und von den großen Ballerinen des 20. Jahrhunderts als die Erbin der Ulanowa (Jahrgang 1910) und der Plissetzkaja (1925). Als Stuttgarter Ballettchefin und Nachfolgerin von John Cranko von 1976 bis 1996 wird man sie indessen als Entdeckerin junger Choreografen an die Seite der beiden Pionierinnen des englischen Balletts stellen: Ninette de Valois und Marie Rambert. Doch schließlich ist sie in ihren diversen Rollen und Leitungsfunktionen immer die eine unvergleichbare Marcia Haydée geblieben. Jetzt fehlt ihr eigentlich nur noch ein Komponist und ein Dramatiker vom Range Astor Piazzollas und Horacio Ferrers, die in Anlehnung an den Welterfolg der „Maria de Buenos Aires“ ein Tanztheaterstück „Marcia de Stuttgart“ für sie schreiben. Der Südwestfunk sendet einen Beitrag über sie in der „Landesschau Kultur“ am 21. April um 18.15 Uhr.

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