Hans Christian Andersen oder die literarische Apotheose des Balletts

John Neumeiers „Die kleine Meerjungfrau“

oe
Hamburg, 02/07/2007

Im Grunde ist es die alte Geschichte von der Seejungfrau, die sich in ihrem kühlen Nass danach sehnt, ein Mensch zu werden, geliebt zu werden und eine Seele zu bekommen – ein Wunsch, dessen Scheitern vorprogrammiert ist. Doch John Neumeier hat ihr eine andere Perspektive gegeben. In seinem großen zweiteiligen Ballett „Die kleine Meerjungfrau“ erzählt er sie, frei nach Hans Christian Andersen, diese vielleicht berühmteste und jedenfalls populärste seiner Stories – und zwar indem er den Dichter selbst als Schlüsselgestalt einführt, der die anonym gebliebene Meerjungfrau erfindet und auf sie den Traum seines Lebens und seiner großen Liebe projiziert. Der ist bekanntlich in seinem wirklichen Leben keine Erfüllung zuteilgeworden. Und so ist er gescheitert – wie die kleine Meerjungfrau. Am Schluss verschmelzen sie und gehen in die Weltliteratur ein.

Es ist die großartigste Apotheose, die das Ballett je zustande gebracht hat, weit entfernt von den Verklärungen der jungen Liebespaare à la „Schwanensee“, „Dornröschen“ oder „La Bayadère“. Sie rückt das Ballett als Kunstprodukt an die Seite so großer Metamorphosen, wie sie die Oper etwa in Monteverdis „Poppea“, Wagners „Tristan“ und Straussens „Ariadne“ zu bieten hat. Und ein bisschen darf man wohl mutmaßen, dass in Neumeiers Zeichnung des Charakters des dänischen Schriftstellers ein gut Teil autobiografische Erfahrung eingeflossen ist: der Ballettschöpfer, dessen Kunst eine Sublimierung seines persönlichen Schicksals verkörpert – hier, im Tanz sogar wortwörtlich.

Jedenfalls ist „Die kleine Meerjungfrau“, entstanden ursprünglich im Auftrag des Königlich Dänischen Balletts und dort anlässlich des großen Andersen Jubiläums vor zwei Jahren uraufgeführt, zu einem Schlüsselwerk seines imponierenden Oeuvres geworden. Er hat es jetzt für seine Hamburger Kompanie noch einmal gründlich überarbeitet, zusammen mit der Komponistin Lera Auerbach. Zustande gekommen ist so eins der menschlich bewegendsten, choreografisch vielgestaltigsten und reichhaltigsten, musikalisch ungemein fesselnden, brillant getanzten Ballettkreationen der letzten Jahre – mit einer Traumrolle für die Titelgestalt, wie es sie in dieser psychologischen Differenzierung bisher nicht im Ballett gegeben hat – in keiner Giselle, Odette/Odile, keiner Julia und keiner Kameliendame.

Sie wird in Hamburg von Silvia Azzoni getanzt als eine Gestalt aus einer anderen Welt – schon deswegen, weil sie keine Füße hat, sondern einen Fischschwanz, mit dem sie sich durch ihr kühles Nass bewegt (ein genialer Einfall des Kostümbildners J. N., der sie wie im japanischen Kabuki von drei „Magischen Schatten“ transportieren lässt). Und der sie dann, nachdem ihr der Meerhexer (Otto Bubeníček) zu ihren Beinen verholfen hat, die entsetzlichsten Folterqualen ausstehen lässt – nicht nur in ihren ungelenken Bewegungen auf der Erde, sondern die noch viel fürchterlicheren ihrer Seelenpein, indem sie sich in den Prinzen (Carsten Jung) verliebt, der indessen mit der Prinzessin verlobt ist (Hélène Bouchet), die er dann auch heiratet.

Wenn Neumeier den Prinzen mit Edvard, Andersens vergeblich angeschwärmten Freund, und die Prinzessin mit dessen wirklicher Frau Henriette identifiziert, so nimmt man ihnen diesen dramaturgischen Coup zwar staunend ab, verspürt aber doch ein gewisses Unbehagen bei der Transposition dieser realistischen Ebene auf eine Schiffsgesellschaft mit dem Prinzen als totschickem, Golf spielenden Marineoffizier und seiner Matrosen-Crew. So erleidet der arme Schriftsteller Andersen (sehr bewegend anrührend: Lloyd Riggins) zusätzlich zur Frustration seiner unerwiderten Liebe zu Edward/Prinz die Pein, ein Ausgestoßener aus dieser eleganten Gesellschaft der Schiffspassagiere zu sein.

Die Vermittlung zwischen diesen drei Ebenen, der realistischen auf dem Schiff und an Land, der surrealen unter Wasser und schließlich der kosmischen Verklärung, hat ihn zu einer Bandbreite seiner Choreografie inspiriert, die beispiellos in seinem Oeuvre ist. Genau wie sie die Komponistin zu einer Partitur inspiriert hat, die zwischen ihren zarten ätherischen lyrischen Eingebungen und ihren handfesten rhythmischen Eskalationen (besonders in den Matrosentänzen) ein Wunder an stilistischer Mannigfaltigkeit ist und bis zu Kurt-Weill-Zitaten reicht. Bewundernswert ist auch, wie Neumeier mit Leitmotiven arbeitet (die Muschel und der Golfball, aber auch der liebevolle Nasenstüber, den er aus Crankos „Widerspenstiger“ übernommen hat). Was die Inszenierung darüber hinaus an theatralischen Effekten bietet (zum Beispiel die Verwandlung der Meerjungfrau in ein menschliches Wesen) ist geradezu atemberaubend. Dramaturgisch, choreografisch und musikalisch ist die Hamburger „Kleine Meerjungfrau“ Henzes „Undine“ um Klassen überlegen. Um ein paar ausufernde Pas-de-deux-Szenen gekürzt und vor allem um das höchst überflüssige kabarettistische Divertissement in der Hochzeitsszene, würde das zweieinhalbstündige Ballett zweifellos noch an Dichte gewinnen.

Ob es je eine stimmigere tänzerische Wiedergabe erfahren könnte, darf bezweifelt werden. Das Hamburg Ballett, die Schöpfung des Hamburger Ehrenbürgers John Neumeier, tanzt dieses neue große Handlungsballett mit einer einzigartigen Identifikation – in den Corps-de-ballet-Szenen wie in den solistischen Rollen. Diese Kompanie kommuniziert eine dramatische Überzeugungskraft, dass man wie benommen aus dem Theater geht.

Silvia Azzoni hat die Rolle ihres Lebens gefunden – und leidet mit ihr Höllenqualen mit bewundernswertem Mut zur Hässlichkeit, und träumt sich in ihr in eine Schönheit, die wahrlich nicht von dieser Welt ist. Und Lloyd Riggins ist als Andersen dieser Träumer, der seine Lebensfrustration derart sublimiert, dass sie zu einem Produkt der Weltliteratur wird. Auch Carsten Jung wird von dieser Liebe der submarinen Gestalt derart berührt, dass er seinen Playboy-Charme immer wieder in Frage gestellt sieht durch die Aufrichtigkeit ihres Liebesverlangens. Hélène Bouchet allerdings vermag diese außerirdische Liebe nichts anzuhaben – sie bleibt die elegante Prinzessin, deren klassische Nobilität sie vor den Anmaßungen der spukhaften Eindringlinge schützt. Einzig Otto Bubeníček könnte man sich als Meerhexer eine Spur elementarer, dämonischer vorstellen. John Neumeier, hervorgegangen aus dem Stuttgarter Ballett, aber hätte Großmeister Cranko zu seinem 80. Geburtstag kein würdevolleres Geschenk darbringen können!

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