Forsythe Erleben

In ihrem Buch „Kinästhetische Konfrontation“ sucht Wibke Hartewig nach dem Choreografen jenseits der Diskurse

Berlin, 14/08/2007

Nur wenige lebende Choreografen haben die Wissenschaft so stark beschäftigt wie William Forsythe. „Dekonstruktion des klassischen Ballett”, „Postmoderne”, „systematische Überforderung des Zuschauers” sind nur einige der Schlagworte mit denen Kritiker und Performancetheoretiker in den vergangenen 20 Jahren versucht haben, das Phänomen des rätselhaften Balletterneuerers auf eine griffige Formel zu bringen. Trotz aller Beschreibungs- und Definitionsversuche entzieht sich das Werk nach wie vor einer endgültigen Deutung – fast scheint es, als führe jede theoretische Betrachtung nur zu einer Einengung, die dem tatsächlichen Bühnenerlebnis nicht gerecht wird.

An genau diesem Punkt setzt das soeben erschienene Buch der Tanzwissenschaftlerin Wibke Hartewig an.

Unter dem Titel „Kinästhetische Konfrontation – Lesarten der Bewegungstexte William Forsythes” zeigt sie die Grenzen der Theorie auf, die ihren Gegenstand meist nur benutzt, um daraus bereits vorgefasste Thesen abzuleiten, die den Betrachter für all das unsensibel machen, was nicht in die theoretische Matrix passt.

In ihrer über 300 Seiten starken Abhandlung verfolgt die Autorin eine spiralförmige Strategie. Zunächst fasst sie den bisherigen Forschungsstand zu Forsythes Werk kurz und bündig zusammen (der im Quellenanhang des Buches immerhin 12 Seiten umfasst), um anschließend für einen Moment lang Tabula Rasa zu machen und ausgewählte Stücke rein analytisch als „Bewegungstexte” zu betrachten. Die daraus gewonnenen Ergebnisse konfrontiert sie daraufhin wieder mit der Theorie, um so gleichzeitig die Grenzen von Wissenschaft und Bewegungsanalyse aufzuzeigen und einen Zugang zum Werk zu gewinnen, der von der körperlichen Wahrnehmung des Rezipienten ausgeht.

Da es sich bei dem Buch um eine Doktorarbeit handelt, ist der Duktus akademisch und macht es dem Leser nicht immer leicht. Besonders die analytischen Teile, in denen die Autorin das von der Choreografin und Tanzwissenschaftlerin Claudia Jeschke entwickelte Instrumentarium IVB (Inventarisierung von Bewegung) benutzt, um einen unvoreingenommenen Blick auf das Forsythesche Bewegungsmaterial zu ermöglichen, sind in ihrer Akribie zwar beeindruckend, laden aber oft eher zum Querlesen ein – zumal Verlag und Autorin völlig auf die Verwendung von Bildmaterial verzichtet haben.

Hat man sich jedoch erst einmal auf den analytischen Rhythmus des Werkes eingelassen, erweist sich Hartewigs prozessorientierter Ansatz als sehr schlüssig. Im ersten Teil, der Forsythes Auseinandersetzung mit dem (neo-)klassischen Ballett gewidmet ist, überprüft die Autorin nacheinander den Pas de Deux aus Balanchines „Agon” (das 1991 vom Ballett Frankfurt aufgeführt wurde) und kurze Duos aus Forsythes „Artifact”, „The Loss of Small Detail” und „The Room as it was” und demonstriert anhand der motorischen Eigenheiten der Bewegungsprozesse, wie der Choreograf sich über eine ironische Übertreibung der klassischen Formen und die systematische Desorientierung seiner Tänzer zu einem Stadium entwickelt, in dem scheinbar gegensätzliche Versatzstücke zu einer neuen Bewegungsform verschmelzen. An die Stelle der Aneinanderreihung klassischer Posen ist ein Bewegungsfluss getreten, in dem intelligente Tänzerkörper Impulse austauschen.

 Ähnlich verfährt die Autorin mit dem Themenkomplex der Postmoderne, wo sie durch eine vergleichende Analyse von Ausschnitten aus Trisha Browns „Accumulation with talking plus Watermotor” und Forsythes „Solo” aufzeigt, dass beide Choreografen trotz unterschiedlichen Bewegungsmaterials mit denselben Strategien – wandernder Fokus, Wechsel von An- und Entspannung, bewusste Desorientierung und Durchlässigkeit der Körper – arbeiten. Am Ende ihrer Analyse von Forsythes „Quintett” lädt Hartewig schließlich dazu ein, den Aufführungstext als eine Art „lebenden Organismus” zu betrachten, in dem sich sinnlicher Charakter und intellektuelle Durchdringung vereinigen.

Wibke Hartewigs großes Verdienst ist es, auch selbst diese beiden Pole in ihrer Arbeit verbunden zu haben. Einerseits ist in der faszinierten Genauigkeit, mit der sie Geste für Geste analysiert, um den wirksamen Bewegungsverfahren auf die Spur zu kommen, so viel persönliche Begeisterung und Neugier zu spüren, dass der Leser auch Längen im Text gerne in Kauf nimmt – andererseits wartet die Autorin immer wieder mit wohlverdautem enzyklopädischem Wissen auf.

Die knappen aber scharfsinnigen Einschübe, in denen sie das Spannungsfeld zwischen klassischer Tradition, Laban-Modell, Dekonstruktivismus, Postmodern Dance und Architektur skizziert, in dem der Choreograf sich spielerisch bewegt, sind eine brillante Einführung in die Traditionen heutiger Bühnenkunst. Leider fällt die vergleichende Gegenüberstellung mit Zeitgenossen wie Anne Teresa de Keersmaeker und einer neuen Generation von Choreografen wie Meg Stuart und Xavier Le Roy eher oberflächlich aus – doch dürfte darin genug Stoff für ein weiteres Buch stecken.

Natürlich ist Wibke Hartewigs Fazit – „Die Bedeutungssythese findet letztlich in der Wahrnehmung des Rezipienten statt” – keineswegs meilenweit vom Stand der gängigen Theorien zu Forsythes Arbeit entfernt, doch hat die Autorin in ihrem Buch einen Weg zum körperlichen Entdecken von Aufführungen aufgezeigt, den auch so mancher verkopfte Kritiker hin und wieder beschreiten sollte. Denn sicherlich ist es gewinnbringender, Forsythe zu „erleben”, als ihn „verstehen” zu wollen.

 

Wibke Hartewig, Kinästhetische Konfrontation – Lesarten der Bewegungstexte William Forsythes, 357 Seiten, epodium Verlag – aesthetica theatralia, München 2007, ISBN 978-3-9808231-8-0, 24 Euro

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