Ein schwereloser Traum

„Edgar” von Claudia de Serpa Soares und Grayson Millwood bei Tanz im August

Berlin, 21/08/2007

Wenn sich zwei langjährige Ensemblemitglieder einer prominenten Choreografin zum ersten Mal gemeinsam an eine eigene Produktion wagen, hängt die Messlatte gefährlich hoch. Wieviel Eigenständigkeit und Originalität ist von Künstlern zu erwarten, die bislang hauptsächlich als Werkzeuge, Projektionsflächen oder bestenfalls Ko-Autoren einer etablierten Schöpferpersönlichkeit fungiert haben? Claudia de Serpa Soares und Grayson Millwood, beide emblematische Mitglieder von Sasha Waltz und Guests, die immerhin so bedeutenden Stücken wie „Körper” oder „noBody” ihren persönlichen Stempel aufgedrückt haben, unterlaufen solche Erwartungen mit koboldhafter Leichtigkeit. Zwar können und wollen die beiden ihre Prägung durch die Waltz’sche Bewegungssprache der Körperverschlingungen und atemberaubenden Hebefiguren nicht verleugnen, doch setzen sie ihren virtuosen Umgang mit dem Gleichgewicht in erster Linie ein, um ihr Publikum zu verzaubern.

Der knapp zwei Meter große Australier und die zierliche Portugiesin entführen in ihrem Stück „Edgar” in eine versponnene Märchenwelt, die in ihrer skurrilen Poesie an Filme von Tim Burton erinnert. Im Anfangsbild räkelt sich ein übergewichtiger Mann in einer Landschaft aus Pappkartons, stopft sich saure Gurken in den Mund und posiert mit triumphierendem Lächeln zum bombastischen Soundtrack eines Horrorfilms. Alsbald jedoch beginnt die verwahrloste Gestalt sich zu transformieren. Plötzlich wachsen ihr ein dritter und vierter Arm, die beim Falten von Papierkuverts zunächst im Weg sind, dann aber zu kongenialen Origami-Partnern werden. Zwei weitere Beine kommen hinzu, und nach und nach schälen sich aus der unförmigen Anfangsgestalt zwei eigenständige Figuren heraus: Millwood, der sanfte chaotische Riese und Serpa Soares, der cholerische, ordnungsfanatische Gnom. Anstatt aus der Mann-Frau-Konstallation tanztheatertypische Rollenkampfklischees zu entwickeln, stürzen sich die beiden in eine clownartig slapstickhafte Rauferei um die Vorherrschaft im Pappkartonland. Mit kindlicher Grausamkeit belauern sie einander, stellen einander Fallen, versuchen sich gegenseitig in eine der aufgereihten Kisten zu stoßen und diese dann mit Klebeband fachgerecht zu versiegeln.

Als keiner bei den haarsträubenden pantomimischen Auseinandersetzungen die Oberhand gewinnt, verbünden sie sich kurzerhand und eröffnen gemeinsam ein Varieté. In „Edgar’s Magic Pickles Show” bringen sie zunächst mit diabolischem Forschungseifer eine Spreewaldgurke durch Stromschläge zum Explodieren und präsentieren dann eine Revue der unmöglichen Kunststücke. In Nummern, die so denkwürdige Namen wie „The Ring of Triumph” tragen, setzen sie für Minuten die Schwerkraft außer Gefecht und scheinen um- und übereinander zu schweben, als hätten ihre Körper kein Eigengewicht. Natürlich ist in den Momenten, wenn Millwood seine Partnerin auf einer Hand durch die Luft sausen lässt, um sie dann mit den Beinen wieder aufzufangen, das Bewegungsmaterial sämtlicher Sasha Waltz-Stücke präsent, doch dient es hier nicht der Auslotung menschlicher Seelenzustände, sondern einzig und allein der Freude an der Unterhaltung.

Ohne jeden ideologischen oder didaktischen Ballast zeigen die beiden Tänzer, zu welcher zarten Schönheit ihre Körper fähig sind und scheinen dabei selbst am meisten über die gelungenen Kunststücke zu staunen. „Edgar” ist ein kleines Juwel voll keuscher Zurückhaltung und unprätentiöser Naivität. Ein großes Geschenk für die Zuschauer von Tanz im August, die es sich endlich einmal wieder erlauben dürfen, einfach nur zu lachen, zu träumen und zu genießen.

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