In der Nachfolge von Laokoon und Goya

Spuck, Lee und Van Manen beim Stuttgarter Ballett

oe
Stuttgart, 11/03/2007

Die Verlegenheit der Direktion spiegelt sich im Titel des neuen Stuttgarter Ballettabends im Schauspielhaus: „Van Manen / Spuck / Lee“. Kein Hinderungsgrund für das Publikum, das diese zweite Vorstellung bis auf den letzten Platz füllt. Und jedem der drei Stücke langanhaltenden Beifall spendet (Spuck vielleicht noch ein bisschen mehr als den beiden anderen). Ich bin immer etwas skeptisch bei diesen Vorstellungen nach der Premiere. Man hat die Kritiken gelesen (oh ja – mich interessiert immer brennend, was die Kollegen dazu zu sagen haben), man hat dieses und jenes gehört von Leuten, die in der Premiere waren. Meine Erwartungen waren danach eher gedämpft. Zumal da mir der jetzt wieder aufgenommene Van Manen schon bei der Uraufführung 1985 (es war die erste Ballettpremiere der Ära Gönnenwein, zusammen mit neuen Stücken von John Alleyne und Heinz Spoerli) eher missfallen hatte. Umso überraschender meine positive Reaktion auf die beiden Uraufführungen von Spuck und Lee.

Doch was heißt hier positiv? Ich bin ausgesprochen begeistert vom neuen Spuck – mehr als von allen seinen Kreationen während der letzten Zeit. Der Titel „Sleepers Chamber“ annonciert ein Stück, das ganz aus einem Guss ist – Choreografie und Bühne: Spuck, Musik: Martin Donner, Kostüme: Emma Ryott – die alle schon früher zusammengearbeitet haben – drei Tänzerinnen: Katja Wünsche, Elisa Carrillo Cabrera und Angelina Zuccarini, fünf Tänzer: Roland Havlica, Marijn Rademaker, Alexis Oliveira, William Moore und Attila Mako. Keine nacherzählbare Handlung, eher eine Einladung an die individuelle Fantasie der Zuschauer. In meinem Fall ist dies Ballett über eine Schlafkammer ein Stück in der Goya-Nachfolge jenes Schlafes, der Ungeheuer gebiert. In der Traditionslinie der Orwell, Robbins („The Cage“) und Spielberg – und ... ja auch Müntefering. Denn es handelt sich um Heuschrecken: ein ästhetisch bestechender Eindruck, sehr modern, ganz Einheit aus Choreografie, Klang-Environment, Dekor und den höchst individuellen Kostümen. So könnte es auch „Invasion der Heuschrecken“ heißen.

Die Choreografie Spucks definiert sich aus den langgezogenen Gliedmaßen: die verlängerten Köpfe durch die zylindrischen Hüte (ich dachte zunächst an Mitglieder des Ku-Klux-Klan – später auch an Zauberer aus dem Umkreis von Merlin), die langgestreckten Arme und Beine, die wie Tentakel ausgreifen (laut Lexikon „Fanghaar fleischfressender Pflanzen, auch beweglicher Fortsatz in der Kopfregion niederer Tiere zum Ergreifen der Beute“). Er hat dazu ein faszinierend reiches Spiel der Arme und Beine erfunden, die sich spinnenartig in den Raum fressen – was man in Fortschreibung des Port de bras als Port de tentacles zu bezeichnen versucht ist – und eine ganz eigene Art von gespenstischer Magie evoziert. Toll! Und von den Stuttgarter Tänzern wie Spiders aus dem Kosmos realisiert.

Ganz anders der neue Douglas Lee (noch immer lediglich Erster Solist, und doch inzwischen quasi der dritte designierte Hauschoreograf – glücklicher Andersen, glückliches Stuttgarter Ballett!). „Dummy Run“ – na ja, wieder so ein fragwürdiger englischer Titel. Auch Lee wieder verantwortlich für Choreografie und Bühne, mit David Lang und Frank Henne als Klangingenieuren (eher enervierend), Kostümen von Elisa Limberg und Nikolaus Frinke, und dem Beleuchtungs-Designer Reinhard Traub, der hier eine wichtige Rolle spielt, - mit Alicia Amatriain und Alexander Zaitsev als Protagonisten des Sieben-Tänzer-Teams. Die Dummies – also Puppen – sind es Crash-Puppen, Schaufensterpuppen? Jedenfalls lange aus „Coppélia“- und „Puppenfee“-Landen emigriert. Anfangs stehen sie auf ihren Podesten wie Modelle in einem modernen Bildhauer-Atelier. Und wie ein Bildhauer der Rodin-Nachfolge geht Lee mit ihnen im Folgenden um. Er modelliert immer neue Gruppen, verknotet die Körper, die dann in einem Blackout momentweise erstarren. So entwickelt sich sein Ballett wie eine Variationsfolge über das Laokoon-Thema. Mit ihren super gestählten Bodies suggerieren sie Athleten aus einem Studio für die Allee zum nächsten Olympia-Stadion.

Sorry, aber zu Van Manens „Corps“ fällt mir auch nach zwanzig Jahren nichts Neues ein – ich halte es nach wie vor für eine Fehlkonzeption: ein ausgesprochen machistisches Ballett zu dieser so ganz und gar feminin timbrierten Musik (Alban Berg hat sein Violinkonzert immerhin „Dem Andenken eines Engels“ gewidmet). Da können sich Alicia Amatriain und Jiri Jelinek, Elisa Carrillo Cabrera und Filip Barankiewicz, Sue Jin Kang und Marijn Rademaker nebst ihren zwölf schwarzen Ledermännern noch so engagiert in ihre Partien stürzen: ausgerechnet dieses Ballett zu Hans van Manens demnächst bevorstehendem 75. Geburtstag aus dem Fundus zu holen, bedeutet einen eklatanten Fehlgriff. Übrigens droht bereits ein weiteres Ärgernis, wenn die Direktion als ihre nächste Premiere die Wiederaufnahme von Béjarts „Gaîté Parisienne“ für den 6. April ankündigt – ausgerechnet am Karfreitag: eine Geschmackverirrung sondergleichen (wenn nicht Schlimmeres)!

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