Ballett und Wildnis

Das Bayerische Staatsballett zeigte „Giselle“ im Nationalpark Berchtesgaden

Berchtesgaden, 02/07/2007

„Ballett und Wildnis“ heißt der Titel, unter dem das Bayerische Staatsballett zwei Tage lang im Nationalpark Berchtesgaden gastierte. Er ist gut gewählt: Wer ihn anfangs als Gegensatz begreift, kann ihn nach der Vorstellung unkompliziert als Begriffssymbiose nehmen. Denn so fremd ist Ballett (das vermeintlich höchst Künstliche) der Natur (dem ganz und gar Unkünstlichen) nicht, wie vier „Giselle“-Vorstellungen auf der Freilichtbühne Ramsau-Hintersee zeigten.

Zunächst vermisst man zwischen Wald und Wiesen ein wenig das Theater: Die eigens angefertigte Wildnisbühne ist nur zehn mal zwölf Meter groß, das Corps auf vier Bauernmädchen und zwölf Wilis reduziert, kein Vorhang beschließt die Wahnsinnsszene und Albrechts neuen Morgen. Genau diese logistischen Mängel entwickeln sich im Laufe der Vorstellung aber zu einem reizvollen Zusatzelement, denn sie lassen das Stück aus dem Bühnenkasten in die Umgebung hinein fließen. Der Zuschauer sieht auf dem Gras hinter der Bühne Wilis warten, die gerade nicht Männer zu Tode tanzen. Vor dem zweiten Akt läuft Mutter Berthe (Irene Steinbeißer) grübelnd über die Wiese zur Foyerhütte. Und nach der Vorstellung steht Myrtha (Roberta Fernandes) im Anorak und eine Zigarette rauchend auf dem Kies, die Mimik noch ganz der Rolle gehörend. Die Tänzer fügen sich nahtlos zwischen hohe Berge und dunklen Tannen, transportieren Giselles Geschichte mangels einer stabilen Szenerie in ihren Kostümen und Gesichtern.

Doch zur Bühne. Leise wie waschechte Geister betreten Landmädchen und Wilis die Bühne, gekonnt nutzen Myrtha, Moyna (Ivy Amista) und Zulme (Séverine Ferrolier) den Raum, um einen etwas zu lässigen Hilarion (Wlademir Faccioni) in den Selbstmord zu treiben. Sogar die gegenläufige Promenade der Arabesken wirkt im Kammerformat, wenn sie so exakt und poetisch vorgetragen wird wie an diesem Abend. Eine ganz neue Wirkung entfalten dagegen die Requisiten. Die Margerite im ersten Akt, die Lilien, Myrthen und das Holzkreuz im zweiten haben vor der atemberaubenden Bergkulisse plötzlich starke, magische Bedeutung, scheinen sogar entscheidend für das ganze Drama. An den zeitlupenhaften Cambrés und Allongées mancher Tänzer war allerdings die feuchte Kälte abzulesen, die im Gebirge nach der Dämmerung herankriecht.

Angesichts der Frage, ob man in der Wildnis wie im großen Haus tanzen sollte oder besser eine neue Interpretation finden müsse, entschieden sich Lisa-Maree Cullum und Alen Bottaini in den Rollen von Giselle und Albrecht – im Gegensatz zu fast allen anderen – für die zweite Möglichkeit. Bottaini nutzte das rustikale Ambiente und die kurze Distanz zum Publikum, um diesmal weniger feine, dafür aber markante Sprünge und Attituden zu einer Geschichte zu verweben. Cullum wiederum legte viel von ihrer Höheren-Töchter-Aura ab und zeigte mit entschiedenen Gesten und pointierter Fußarbeit eine rauere Giselle als gewöhnlich – so war zu sehen, was für ein robuster Kern eigentlich in der sonst so mädchenhaften ersten Solistin steckt. Die Wildnis bringt es an den Tag.

Vernehmbaren Applaus gab es am Ende – kurz wegen der Kälte, herzlich ob der Tanzkunst. Die im Werk des großen Künstlers Natur sehr wohl zuhause war.

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