Aus der Magic Box des Kunstmuseums

Bridget Breiner präsentiert „Zeitsprünge“

oe
Stuttgart, 16/11/2007

Das hätte wohl dem Cranko gefallen: 32 seiner Stuttgarter Enkel, die von den Ausstellungsräumen des Kunstmuseums Besitz ergreifen und sie in ein Tanzlabyrinth verwandeln! Anfangs liegen sie auf dem Boden der großen Halle hingestreckt, wie im Schlaf – aber keine zerlumpten Goyaschen Gestalten, deren Träume Monster gebieren, sondern wohlproportionierte Mädchen und Jungen in ihren Trikots. Wovon sie träumen, können wir nur mutmaßen: wahrscheinlich von ihren Karrieren als Ballerinen oder Premiers danseurs. Darauf wartend, zum tänzerischen Leben erweckt zu werden. Und das besorgt an diesem Abend die choreografische Hexe, nicht aus Oz, sondern aus Stuttgart/Dresden – das heißt eigentlich aus Columbus/Ohio, die aber nach Stuttgart kommen musste, um ihre wahre Bestimmung zu entdecken. Um mit ihrer ersten, einstündigen Großtat sogleich zur Oberhexe befördert zu werden – mit bürgerlichem Namen Bridget Breiner. Wenn nicht alles täuscht, demnächst in die Elite der Stuttgarter amerikanischen Hexer-Elite aufgenommen zu werden, deren Präsidenten John Neumeier und William Forsythe heißen.

Wahrlich ein Abend der Entdeckungen! Ein neuer Theaterraum, der den Tanz dazu herausfordert, in einen Direktdialog mit der bildenden Kunst zu treten. Ein Stück lokaler Vergangenheitsbewältigung mittels zweier Stuttgarter Seniorinnen, die von ihren Erfahrungen in den bitteren Nachkriegsjahren berichten: Georgette Tsinguirides, damals blutjunge Tänzerin im Opernballett, und Felicitas Baumeister, Tochter des legendären Stuttgarter Malers, dessen Ausstellung „Im Rampenlicht: Baumeister als Bühnenbildner“ als Inspiration und Rahmen und obendrein als akustisches Environment dient, denn die Performance wird begleitet von der Musik zu dem Ballett „In Scribo Satanis“, das Otto Erich Schilling für Stuttgart komponierte, und das 1950 in der Choreografie von Osvald Lemanis hier seine Uraufführung erlebte. Und so erinnert der Abend nicht zuletzt an einen weitgehend in Vergessenheit geratenen Komponisten, der obendrein ein geschätzter Musik- und Ballettkritiker der „Stuttgarter Zeitung“ war, und dessen Musik in jedem tänzerischen Takt den gewieften Theaterpraktiker verrät.

Für die Konkretisierung des Titels „Zeitsprünge“ sorgen indessen die Tänzer, die keine Minute lang einen Zweifel daran aufkommen lassen, dass wir uns im Hier und Heute von 2007 befinden. Und so geleiten sie uns durch die verschiedenen Räumlichkeiten, über Treppen und Korridore, auf die Aussichtsplattform, von der aus wir sie in der Tiefe ihre tänzerischen Skizzen absolvieren sehen, um Ecken herum, wir halten mit ihnen inne in der Betrachtung der Baumeisterschen Dioramen, Modelle und Bilder, werden bedrängt von den Kasperle-Figuren und den Ausgeburten seiner fabulierenden Fantasie, und bestaunen zwischendurch immer wieder die tollsten tänzerischen Arrangements auf Spitze und in Schläppchen, als Duos und Trios, kleineren und größeren Gruppen, ihre Flug- und Fangaktionen, ihre laokoonischen Verknotungen, die sich in einen hinreißend ebenmäßigen Kantilenenfluss auflösen, ihre zugespitzt schräg-expressionistischen Raumerkundungen, von denen sie zurückkehren in die balsamische Ordo ihrer Danse-d‘école-Exerzitien. Sie beherrscht wahrlich alle Tricks ihres Hexen-Einmalseins, unsere Semper-Hexe aus Elbflorenz. Und beweist so, dass Neckar und Elbe einen exzellenten choreografischen Cocktail ergeben, der leicht süchtig macht. Auch das kann man ja wohl eine sublime Art von Doping nennen! Von dem wir liebend gern bald eine Nachlieferung hätten. Zumal wenn sie so frisch und strahlend serviert wird wie von den Cranko-Enkeln aus der Urbanstraße. Die sicher fündig werden könnten, wenn sie ein bisschen in den Archiven der Schlemmer- und Burger-Hötzel-Nachfolger stöberten.

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