Petipa gewinnt Konturen

Zu Person und Werk mit Text und Tanz

München, 31/10/2006

Mit einer Sonntagsmatinée unter dem Titel „Wer hat Angst vor Marius Petipa?“ eröffnete das Bayerische Staatsballett seine neue Spielzeit, in deren Zentrum „Die Welt des Marius Petipa“ stehen wird. Zu Eintrittspreisen, nicht einmal doppelt so teuer wie sonst die Workshop-Veranstaltungen der beliebten Reihe „Ballett extra“ im Probenhaus am Platzl, waren die Zuschauer ins Nationaltheater eingeladen, um informative Texte zu Petipas Person und Werk zu hören und dazu tänzerische Beispiele zu sehen.

Mit zwölf Tänzerinnen aus dem Corps de ballet zeigte Ivan Liška zu Beginn am Beispiel von “Der lebende Garten“ aus „Le Corsaire“, wie eine Probe zu Petipas Zeit ausgesehen haben könnte. Für das Publikum mag es instruktiv gewesen sein, wie schnell sich aus Bausteinen wie Pas de Basque, dem Lieblingsschritt Petipas, aus Ballonné oder Balancé, also aus Elementen der „Danse d´ècole“, ganze Passagen und Formationen ergeben, mit denen ein großes Ensemble plötzlich den Raum füllt. Zum weiteren Aufbau kommen Solisten hinzu, und ohne dass die Musik gewechselt hätte, ließ Ivan Liška (zeitweise das Alter Ego Petipas) nacheinander Giselle, Nikiya, Aurora, Kitri, Odette und Raymonda mit kurzen charakteristischen Schrittfolgen auftreten, wobei das Staatsballett schon etwas damit auftrumpfte, dass es alle großen Petipa-Ballette, in deren Mittelpunkt die genannten Rollen stehen, in seinem Repertoire hat.

Bevor Natalia Kalinichenko eine Giselle-Variation aus dem 1. Akt des gleichnamigen Balletts tanzte, wurde Petipas kreativer Umgang mit der Tradition thematisiert, mit der er dieses französische Juwel bewahrte und zu einem Heiligtum russischer Ballettbühnen erhob. An „Dornröschen“ und „La Bayadère“, die beide Aufsehen erregende Neu- bzw. Rekonstruktionen in St. Petersburg erfahren haben, verfolgte man den Weg der Tradition bis in die Gegenwart. Dabei konnte man den heute im Staatsballett getanzten Fassungen wichtiger Variationen originale, auf der Grundlage der choreografischen Aufzeichnungen von Nicholas Sergejew rekonstruierte Fassungen vom Anfang des 19. Jahrhunderts vergleichend gegenüberstellen. Denn der amerikanische Tanzwissenschaftler Doug Fullingham, für die Authentizität der für Januar 2007 anstehenden Rekonstruktion von „Le Corsaire“ engagiert, stellte die Entzifferung der entsprechenden Notate zur Verfügung, Aufzeichnungen Sergejews, dessen System wie das von Stepanow seit langem nicht mehr gebräuchlich ist. (Sie waren vor wenigen Jahren eine sensationelle Entdeckung im Theaterarchiv der Harvard-Universität.) Dabei tauchten überraschenderweise zwei Petipa-Variationen der Fliederfee auf, die erste von Severine Ferrolier, die zweite, eminent schwierige, von Stephanie Hancox getanzt.

Wie Petipa auf die Fähigkeiten seiner Tänzer einging, zeigte sich eindrucksvoll an der bekannten Hochzeits-Variation Prinz Désirés, die zunächst Alen Bottaini tanzte. Eine zweite Fassung, 1904 erneuert, teilte sich Bottaini mit Tigran Mikayelyan, der vorher schon als Blauer Vogel glänzte. Denn sie war so pausenlos gespickt mit schnellen à terre-Schritten, dass sie auch an heutige Spitzentänzer Anforderungen stellt, für die ihre Muskeln nicht mehr trainiert sind, weil sich das Gewicht der Choreografie mehr auf die hohen, weiten Sprünge und expansiven Bewegungen verlagert hat. Diese Tendenz bestätigten als weitere tanzhistorisch interessante Beispiele je zwei Fassungen aus „La Bayadère“: die 3. Schatten-Variation, getanzt von Claudine Schoch, die mit ihren anfangs reduzierten Hebungen mehr Gelegenheit zum Ausdruck gab, und die Coda Nikiyas, von Ivy Amista getanzt, die sich in ihrer später von Anna Pawlowa ausgeführten Fassung zum Virtuosen und zu schlankeren Bewegungen hin verwandelt hat.

Die Dramaturgen Bettina Wagner-Bergelt und Wolfgang Oberender brachten im Wechsel mit Ivan Liška weitere Aspekte von Petipas choreografischem Schaffen zur Sprache, so seine phänomenal lange Schaffenszeit, die er als über 70-Jähriger in der Zusammenarbeit mit Tschaikowski und Glasunow noch einmal auf eine ganz neue Basis stellte, nämlich die der symphonischen Musik, ferner seinen Umgang mit Nationaltänzen, für den Lisa-Marree Cullum aus dem Nichts heraus mit Raymondas Variation aus dem Grand Pas Hongrois ein strahlendes Beispiel gab. Der Ausblick auf „Le Corsaire“ mit Birbanto, seiner Geliebten (Valentina Divina) und der bunten Piratenbande wurde nicht nur dank eines von Energie und Spiellust sprühenden Alen Bottaini lebhaft bejubelt. Dann klang die von Bettina Wagner-Bergelt und der Pianistin Maria Babanina aphoristisch-informativ konzipierte Matinée poetisch aus: Mit Blick auf Petipas leeren Stuhl auf leerer Bühne war zu vernehmen, wie der größte Meister des russischen Balletts noch in seinem neunten Lebensjahrzehnt beim täglichen Probenbeginn die Altersmüdigkeit abwarf und von neuem Feuer fing …

Man könnte auf Fehlendes hinweisen und hätte vieles anders machen können, aber am Ende bleibt festzuhalten, dass in der idealen Dauer von knapp anderthalb Stunden „sehr viel Petipa“ vermittelt wurde. Solche Gesprächs-Ballett-Vorstellungen würden auch öfter den Wunsch der Zuschauer treffen.

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