Liegt Zürich im Mündungsdelta von Moskwa und Newa?

Heinz Spoerli als choreografischer Ritter von der ganz und gar nicht traurigen Gestalt

oe
Zürich, 08/11/2006

Wieder einmal die Warnung vorweg, das koeglerjournal für eine Kritik zu halten – statt es als eine Art Tagebuch-Impression zu lesen! Ganz schön hochprozentig, dieser „Don Q“-Cocktail, gemixt aus den Edelbränden Petipa, Gorsky und Spoerli! Und so gleichermaßen zu Kopfe steigend und die Füße elektrisierend, dass man nach 130 Minuten das Opernhaus wie in einem Rausch verlässt und sich die Augen reibend fragt, liegt Zürich wirklich an der Limmat – nicht doch am Zusammenfluss von Moskwa und Newa? Denn da kommt so viel Bolschoi-Vitalität und „Überschwang (in den Volksszenen) wie Mariinsky-Eleganz und Hochglanzpolitur (im Dryaden-Traum) zusammen, dass die Zürcher Neuproduktion des Klassikers von 1869 (Petipa) und 1900 (Gorsky) mit einem kräftigen Schuss Spoerli 2006 wirkt wie die beste aller Ballettwelten.

Natürlich kann man sich das alles Cervantes-näher vorstellen, auch spanischer – wenn auch schwerlich zu diesem Libretto und dieser Musik. Kaum aber theatralisch zündender und in die Glieder fahrend als jetzt in Zürich. Jetzt wissen wir‘s: der Zürcher „Schwanensee“ war eine Auszeit – ein Kräftesammeln für diese Explosion tänzerischer Lebensfreude, wie sie da in gebündelter Energie aller Beteiligten aus dem Orchesterraum (Dirigent: Peter Feranec) und über die Rampe brandend von der Bühne (Ausstattung Jordi Roig, Lichtgestaltung: Martin Gebhardt), dem fabelhaften Corps und allen Solisten wie ein Tsunami in den Zuschauerraum schwappt und das Publikum verquirlt in den Strudel des beseligenden Gefühls: wir alle sind ein einzig Volk von Tänzern!

Eine Vorstellung wie diese (die dritte – die Premiere war am 4. November) macht wieder einmal deutlich, wie unsinnig die Trennung von Ballett und Tanztheater ist. Gutes Ballett ist immer mitreißendes Tanztheater. Die Voraussetzungen dafür sind ein stimmiges Konzept, das vom Tanz ausgeht, ein Choreograf, der ein gewiefter Handwerker ist (und das ist Spoerli, der sein Metier aus dem Effeff beherrscht), und der seine Leute so zu motivieren versteht, dass sie mit Lust und Laune (die nötige technische Souveränität vorausgesetzt) bei der Sache sind und tanzen, als gälte es, die Goldmedaille der Ballett-Olympiade zu gewinnen.

Und das tun sie in Zürich ausnahmslos alle, von den beiden Topsolisten aus Kiew (Anastasia Matvienko als Kitri, mit Beinen, die geradezu in den Himmel fliegen, und Denis Matvienko als Basil, ein Turbo-Generator) über die Zürcher Premiers (Ana Carolina Quaresma, Cintia Decastelli und Evelyne Spagnolo, Arman Grigoryan, Sophie Benoit und Vahe Martirosyan) bis zu den Corps-Tänzern, ob sie nun Volk, Zigeuner, Toreros oder Dryaden sind oder als Don Quixote (Filipe Portugal), Sancho Pansa (Iker Murillo) oder Don Gamache (Jozef Varga) durchs Geschehen staksen.

Ach, wenn wir doch in Stuttgart eine so prall-lebensvolle, vor Temperament geradezu berstende „Don Q“-Produktion wie in Zürich hätten (denn die Tänzer dafür hätten wir ja durchaus)! Aber Stuttgart liegt eben am frustrierten Nesenbach – und nicht wie Zürich am fiktiven Delta von Moskwa und Newa. Und München mit seinem bevorstehenden „Le Corsaire“? Werden wir dort entdecken, dass die Isar in Wirklichkeit ein Nebenfluss der Seine ist?

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