„Death is very international“

Jérôme Bel mit „Pichet Klunchun and myself“ im HAU1

Berlin, 25/04/2006

Zwei Künstler sitzen sich gegenüber, zwei Welten, und der Tanz, der sonst immer alles verbindet, wirft Unterschiede auf, die größer nicht sein könnten. Pichet Klunchun ist ein klassischer Thai-Tänzer, der im Rahmen eines thailändischen Projekts, das Jérôme Bel leitete, auf den europäischen Choreografen traf.

Das Stück dokumentiert die Geschichte ihres Kennenlernens und das gegenseitige Vorstellen ihrer Arbeiten. Auf sehr unterhaltsame und gleichzeitig informative Weise erfährt der Zuschauer Grundlagen des klassischen Maskentanzes Khon, der ältesten theatralischen Form, die heute noch in Thailand gepflegt wird. Pichet, der durch den Tanz zum Repräsentanten des Buddha wird, führt Bel die grundlegenden Trainingsschritte vor, die er täglich drei Stunden übt. Er zeigt ihm die vier Charaktere Frau, Mann, Dämon und Affe und erklärt die Bedeutung jeder einzelnen Bewegung genau: etwa wie es regnet, wie ein Bogen gespannt und abgeschossen wird, wie eine Person verletzt und wieder geheilt wird. Gestorben wird auf der Bühne nicht, denn das bringt Unglück, aber dafür viel gekämpft - immer jedoch sehr ästhetisch, lyrisch und kontrolliert.

Auch Jérôme Bel zeigt Ausschnitte seiner Choreografien: eine Sequenz, in der er sich überhaupt nicht bewegt, seine Antwort auf die „societé de spectacle“, die immer Action gewohnt ist und Erwartungen an eine Aufführung stellt, die er nicht erfüllen möchte. Auch einen Ausschnitt aus dem Solo „Der Tod und das Mädchen“, das ihm die Choreografin Susanne Linke geschenkt hat, führt er dem thailändischen Kollegen vor, ferner eine Szene, in der er auf das Lied „Killing me softly“ mit wenigen aufeinander folgenden Gesten stirbt. Pichet schaut genau hin und versteht: „Death is very international“.

Bel spricht über die zeitgenössische Kunst, die zu 95% „awful“ sei, und berichtet dem ungläubigen Pichet, der bei seiner letzten Tanzvorführung in Thailand ganze zwei Zuschauer hatte, dass europäische Zuschauer sich für zeitgenössischen Tanz nicht nur interessieren, sondern auch noch bereit sind, dafür Geld zu bezahlen.

So unterschiedlich ihre Tänze und Lebensweisen sind, versuchen doch beide Choreografen, das Traditionelle weiterzuentwickeln, etwas Neues und Eigenes zu schaffen. Durch das Interesse an der Arbeit des anderen entsteht Sympathie, ja Akzeptanz, die allerdings auch ihre Grenzen hat: Als Bel einen Ausschnitt aus seiner Choreografie „Jérôme Bel“ präsentieren will, in dem er nackt auftritt, hält Pichet ihn erschrocken davon ab, sich die Hose auszuziehen.

An dieser Dissonanz wird deutlich, worin die Grundspannung zwischen den beiden Tanzkulturen besteht. Während der thailändische Khon-Tanz eine religiöse, mythische Grundlage hat und von seinem Bezug zum Transzendenten lebt, verweist der europäische Tanz - jedenfalls der zeitgenössische - auf die Immanenz; bei ihm geht es weniger um das Verhältnis des Individuums zum Göttlichen als darum, wie der individuelle Körper zum Körper der Gesellschaft steht. Ein Abend, der auf eindringliche und vergnügliche Weise kulturelle Differenzen inszeniert.

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