Die große Einzelgängerin

Norbert Servos' opulente Monografie über Susanne Linke

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Stuttgart, 03/01/2006

Es ist ein ungemein aufwendiger Band geworden, 1,596 Kilo schwer, optisch sicher der am glänzendsten aufgemachte, attraktivste unter den zahlreichen Büchern, die in den letzten Jahren über die „bedeutenden Pioniere des Tanztheaters“ erschienen sind, zu denen Susanne Linke gehört, „unbestritten“, wie Norbert Servos ihr im ersten Satz seines Vorwortes mit Recht attestiert. Weshalb hier ausdrücklich die für Gestaltung und Satz verantwortliche www.pilot-fish.de, Berlin, genannt sei („Schritte Verfolgen – Die Tänzerin und Choreographin Susanne Linke“, Herausgegeben von Norbert Servos, K. Kieser Verlag, München 2005, 198 Seiten, 44,- Euro; ISBN 3-93546-09-3).

In zwei Abteilungen verfolgt Servos zunächst im Gespräch mit Susanne Linke die Schritte und Wendepunkte ihrer Biografie (Frühe Krankheit und Erfahrung in der Psychiatrie, Erste Freiheit und Entlassung aus der Psychiatrie, Kindheitstraum: Tänzerin, Auf dem Weg, Entdeckung der Schönheit, Tanz der Reife). Dann folgen „Choreographische Themen“, neun an der Zahl, die er sich mit anderen Autoren teilt: Transzendenz (Servos), Frauen (Gabriele Wittmann), Macht und Ohnmacht (Hartmut Regitz), Männer (Jochen Schmidt), Tanz und Tänzer (Servos), Wurzeln und Weggefährten (Katja Schneider), Literatur (Barbara Bongartz), Selbstvergewisserung (Schneider) und Lachen (Waltraut Körver). Den Schluss bilden dann ein Werkverzeichnis, der Bildnachweis, die Danksagung und die Vorstellung der Autoren.

Wie gesagt: ein tolles Buch, einladend, darin zu blättern und sich an den Fotos satt zu sehen (auch an der Farbdramaturgie der Gestaltung) – und natürlich darin zu lesen. Auch wenn das bei den komplizierten und oft sehr umstandskrämerischen Gedankengängen der einzelnen Autoren manchmal nicht ganz einfach ist und ich mir wünschte, mehr Kollegen besäßen Jochen Schmidts Fähigkeit zu anschaulichen, sprachlich klaren Formulierungen. Jedenfalls gewinnt Susanne Linke in diesen Schilderungen eine außerordentlich vielseitige Gestalt. Das Buch dürfte ihr viel Sympathie einbringen! In den Beiträgen von Servos ist häufig von Transzendenz die Rede. Sein Lieblingswort ist allerdings die „Definitionshoheit über das Ästhetische“. Es sollte mich nicht wundern, wenn es zum Leitwort der künftigen Diskussion über das Tanztheater wird. Gemeint ist damit wohl, wenn ich ihn richtig verstanden habe (ganz sicher bin ich mir dessen nicht), der von ihm im Namen Susanne Linkes entschieden streitig gemachte Absolutheitsanspruch des akademischen Balletts was die Definition der Schönheit im Tanz angeht.

Die ist zuletzt wohl am nachdrücklichsten von Lincoln Kirstein in seinen diversen Schriften dingfest gemacht worden, dessen „Movement & Metapher“ von 1970 durchaus mit Hanslicks berühmtem Manifest „Vom Musikalisch-Schönen“ verglichen werden kann. Übrigens gedenken wir an diesem 5. Januar 2006 der zehnten Wiederkehr von Kirsteins Tod und werden uns bewusst, wie sehr der heutigen Ballettszene ein Mann seines intellektuellen Formats fehlt.

P.S.: Eine Irritation ereignet sich im Geleitwort auf Seite 1, wo von der Ausbildung Susanne Linkes die Rede ist, die sie „bei Mary Wigmann absolviert hatte“. Befürchtet man danach, dass die Galionsfigur des deutschen Ausdruckstanzes im Zuge der aktuellen Gender-Debatte das Geschlecht gewechselt habe und zu einem Mann mutiert sei, so wird sie auf Seite 27 (der lange Zwischenraum ist nicht zuletzt durch die vielen großformatigen, meist ganz- und sogar doppelseitigen Fotos bedingt) wieder in ihre genuinen weiblichen Rechte eingesetzt.

 

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