Die choreografischen Kronjuwelen aus der Schatzkammer der Zaren

Über Marius Petipa und seine Rezeption auf dem deutschen Theater

oe
Stuttgart, 21/12/2006

Vorbemerkung: Der nachfolgende Beitrag wurde von der Zeitschrift tanzjournal im Hinblick auf die bevorstehende Münchner Einstudierung von Le Corsaire bestellt und ist dort im Heft 6/06 erschienen durch einen Übermittlungsfehler allerdings in gekürzter Form, vor allem fehlt der ganze Schluss. Ich bedanke mich bei Klaus Kieser für die Erlaubnis des Nachdrucks in der Originalversion. oe

Ja, da kann man direkt ins Träumen geraten: wenn nämlich der Generalintendant der „Königlichen Schauspiele“ in Berlin (zuständig auch für die Oper), Botho von Hülsen, das Format seines St. Petersburger Kollegen an den dortigen Kaiserlichen Hoftheatern gehabt und Marius Petipa in Berlin gehalten hätte! In seinem nach wie vor äußerst lesenswerten Band „Marius Petipa – Meister des klassischen Balletts – Selbstzeugnisse, Dokumente, Erinnerungen“, Berlin 1975, berichtet Eberhard Rebling in dem Kapitel „Petipa in Berlin“ über nicht weniger als drei Aufenthalte des Choreografen an der Spree, wo am 20. April 1863 seine Ballett-Pantomime „Der Markt“ mit der Musik von Pugni Premiere hatte und immerhin so erfolgreich war, dass sie in die folgenden Spielzeiten übernommen wurde (mit Madame Petipa als Gloriette: „Sie tanzt Triller und Coloraturen. In ihrer ganzen Erscheinung eine veritable sternfunkelnde Unruhe, ein flimmerndes Funkensprühen, ein Irrlichtflattern, dem anfangs das Auge kaum zu folgen vermag ...“). Übrigens besuchte Petipa auch das Ägyptische Museum, wo er sich Anregungen für sein Ballett „Tochter des Pharao“ holte. Also wenn ich mir vorstelle, dass Petipa in Berlin Hofballettmeister geworden wäre und dort „Die Bajadere“, „Dornröschen“ und „Raymonda“ geschaffen hätte ... Doch das wussten die beiden Berliner Ballettmeister Michael François Hoguet und Paul Taglioni zu verhindern.

Und so verging offenbar ein halbes Jahrhundert, bis der Name Marius Petipa wieder einmal auf einem Berliner Besetzungszettel auftauchte. Das war dann am 27. Mai 1910 beim Gastspiel eines Ensembles des St. Petersburger Marientheaters in der Komischen Oper, das dort Petipas „Rast der Kavallerie“ tanzte – übrigens nur wenig später nach einem Gastspiel der Diaghilew-Kompanie im Theater des Westens mit der Uraufführung von Fokines „Carnaval“.

Über die balletthistorische Bedeutung Petipas als Zar des russischen Balletts scheint sich damals in Deutschland noch kaum jemand im Klaren gewesen zu sein (im Ausland offenbar auch nicht). Und das war auch nicht viel anders, als die ersten Produktionen der Petipa-Klassiker als Eigeneinstudierungen an den deutschen (österreichischen und Schweizer) Opernhäusern herauskamen. Das wüsste man doch gern, wie denn wohl die „Raimonda“ ausgesehen hat, die Walter Junk 1933 in Duisburg choreografierte, oder Betty Mercks „Schwanensee“ 1938 in Dessau – wobei ich das Original mal zu den Petipa-Kreationen rechne, denn wenn ich mich recht erinnere, galt „Schwanensee“ noch bis in die fünfziger Jahre als Petipa-Ballett, selbst wenn nur der Iwanowsche zweite Akt gegeben wurde, auch noch bei der – trotz Dessau – als deutsche Erstaufführung annoncierten Einstudierung des kompletten „Schwanensees“ von Lisa Kretschmar 1954 in Mannheim.

Immerhin hatte es bereits 1949 eine „Dornröschen“-Produktion an der damals noch im Admiralspalast in der Friedrichstraße ersatzbeheimateten Deutschen Staatsoper Berlin gegeben – zusammen mit Beethovens „Prometheus“ – Choreografie: Tatjana Gsovsky. Von Petipa war da noch nicht die Rede, obgleich doch die Blauen Vögel in Gestalt von Denise Laumer und Peter van Dyk mit von der Partie waren und auch von Natascha Trofimowa und Gert Reinholm als Dornröschen und Prinz anzunehmen ist, dass sie sich zumindest in einer an Petipa angenäherten Form des Grand Pas de deux im Finale bemüht haben (an die sich Gsovsky vielleicht noch aus ihren Jugendtagen in St. Petersburg erinnerte). Gab es die Feen-Variationen im Prolog? Wir wissen es nicht. Jedenfalls waren die Feen in dieser Version noch namenlos – dafür gab es sie zusätzlich zur Guten und zur Bösen Fee (beide von Tänzerinnen dargestellt) gleich im Dutzend.

Mehr als Annäherungen an das, was wir heute als Originalchoreografien der Klassiker bezeichnen, gab es damals noch nicht – nicht bei Boris Pilatos „Giselle“ 1953 in Bonn (wo sich noch niemand bewusst gewesen zu sein scheint, wieviel Petipa in St. Petersburg zur Überlieferung der Choreografie von Coralli und Perrot beigetragen hatte – was ja viele Ballettleute bis heute kaum wissen) – und auch nicht bei Robert Mayer 1955 in Stuttgart. Eher hielten sich schon Wazlaw Orlikowsky (in Oberhausen 1952-55 und in Basel 1955-67) und Nicholas Beriozoff (in Stuttgart 1957-60 und in Zürich 1962-64) bei ihren Klassikereinstudierungen ihre Kenntnisse der „Originalchoreografien“ zugute, die sie als junge Tänzer in der Sowjetunion beziehungsweise in diversen exilrussischen Kompanien erworben hatten. Doch hinterfragte damals noch keiner der Kritiker hierzulande, was denn an ihren Produktionen von „Dornröschen“, „Schwanensee“ und „Nussknacker“ noch Original-Petipa beziehungsweise kreativer Eigenbeitrag war. Und noch als Manfred Taubert 1969 in Braunschweig „Raymonda“ herausbrachte, dachte niemand an einen Vergleich mit der Petipa-Choreografie (obgleich wir damals schon ein bisschen besser über Petipa informiert waren, nachdem Nurejew bereits 1964 „Raymonda“ für die Royal Ballet Touring Company „nach Petipa“ einstudiert und dann 1965 auf das Australian Ballet übertragen hatte, das damit auch bei den Berliner Festwochen gastierte).

Immerhin muss man Orlikowsky in Oberhausen (!) und Basel und Beriozoff in Stuttgart und Zürich bestätigen, dass sie sich vehement für die Klassiker eingesetzt und das Sensorium des Publikums für die Ballettklassik geschärft haben, gleich, ob es sich nun um Coralli/Perrot oder Petipa/Iwanow handelte. Auch wenn zumal die Basler Orlikowsky-Klassiker in meiner Erinnerung einen etwas dubiosen vulgären Hautgout angenommen haben (nach heutigem Sprachgebrauch würde man sie wohl eher als Gammel-Petipa/Iwanow klassifizieren). Die Münchner werden natürlich an dieser Stelle protestieren und auf ihren angeblich lupenreinen zweiten „Schwanensee“-Akt nach Iwanow von Victor Gsovsky, Jahrgang 1950, verweisen.

Wesentlich trugen die Gastspiele der beiden führenden sowjetischen Kompanien, des Moskauer Bolschoi-Balletts und des Leningrader Kirow-Balletts, von der Mitte der fünfziger Jahre an in der westlichen Welt zu einer Aufwertung des Prestiges von Petipa bei – auch wenn die deutschsprachigen Länder davon anfangs mehr durch die Berichte aus London, Paris und New York als durch eigene Anschauung mitbekamen. John Crankos Stuttgarter „Schwanensee“ von 1963 (revidiert 1970 und 1972 und in dieser Version bis heute auf dem Spielplan – inzwischen sicher der dienstälteste deutsche „Schwanensee“) beeindruckte Nurejew bei seinen diversen Einstudierungen (zuerst 1964 für das Wiener Staatsopernballett, dann auch für andere Kompanien) derart, dass er sich von ihm entscheidend in seiner Aufwertung der Rolle des Prinzen davon beeinflussen ließ.

Jedenfalls häuften sich in den späten fünfziger und sechziger Jahren die Produktionen der Klassiker mit mehr oder weniger starkem Petipa-Anteil derart, dass hier unmöglich mit Fakten untermauert (aber geben wir es zu: auch aus Mangel an Wissen) darauf eingegangen werden kann. Immerhin bezeichnend erscheint mir, dass, als der Friedrich Verlag 1965 erstmals ein Ballett-Jahrbuch herausbrachte, bereits der zweite, 1966 erschienene Band seinen Hauptteil der „Petipa-Renaissance“ widmete, in dem Vera Krasovskaya, die große russische Balletthistorikerin, eine Auswahl aus den damals noch unveröffentlichten Tagebüchern zusammengestellt und außerdem einen Artikel über „Petipa gestern und heute“ beigesteuert hatte, während John Percival danach fragte „Was bedeutet Petipa heute für den Westen?“ und Clive Barnes „Petipas Erben“ Revue passieren ließ. Übrigens zitiert Krasovskaya in ihrem Beitrag einen Brief Petipas aus dem Jahr 1892, in dem er schreibt: „Ein begabter Ballettmeister wird Tänze und ältere Ballette nur auf der Grundlage seiner eigenen Phantasie und seiner besonderen Fähigkeiten neu herausbringen, immer mit Berücksichtigung des Publikumsgeschmacks seiner Zeit, und weder Zeit noch Mühe auf den Versuch scheuen, veraltete Formen früherer Epochen und früherer Meister zu kopieren. So hat beispielsweise Taglioni sämtliche Tänze in ‚La fille mal gardée‘ abgewandelt und von Hertel eine neue Musik dazu schaffen lassen. Ebenso mache ich es mit allen älteren Balletten, die ich neu herausbringe.“

Seine Worte in die Ohren aller derjenigen, die sich heute als Lordsiegelbewahrer Petipas (oder Iwanows) und seines Oeuvres gerieren! Was Petipas Bedeutung für unsere Zeit ausmachte, hat Percival so formuliert: „Petipas Begabung lag darin, dass er den klassischen Tanz mit Schlichtheit, Klarheit und Glorie einzusetzen wusste. Man sehe sich seine Tänze in ‚Dornröschen‘ an: ihre Muster, ihre Rhythmen und ihre Vielfalt runden sich zu perfekter Sinngebung. Auch hinterlassen sie beim Betrachter den unverkennbaren Eindruck eines Künstlers, der seine individuelle Sprache spricht. Sie tragen den ausgeprägten, deutlichen Stempel seines Stils. Diese Qualitäten sprechen auch aus der Szene im Königreich der Schatten in ‚La Bayadère‘, aus seinen Tänzen für ‚Raymonda‘, aus seinem Anteil an ‚Schwanensee‘ ... Wenn man sich ‚La Bayadère‘ ansieht, versteht man, aus welcher Quelle Balanchine seine Kunst schöpft.“

So häufen sich auch bei uns vom Beginn der sechziger Jahre an die Einstudierungen von „Giselle“, „Schwanensee“, „Dornröschen“ und „Nussknacker“ – wie groß oder gering auch immer ihr Anteil an Original-Petipa gewesen sein mag. „Don Quixote“ ist noch nicht darunter, auch keine „Raymonda“, geschweige denn eine „Bayadère“. Pionierarbeit haben in dieser Beziehung Tatjana Gsovsky in ihren diversen Engagements, Orlikowsky in Oberhausen, Basel, Wien und Bregenz, Beriozoff in Stuttgart und Zürich, Heinz Rosen mit Dulce Anaya und Joan Harris in München, Cranko in Stuttgart, Gustav Blank in Hamburg, Yvonne Georgi mit Richard Adama in Hannover, Erich Walter mit Ruzena Mazalová in Düsseldorf, Emmy Köhler-Richter in Leipzig, Tom Schilling in Dresden, Lilo Gruber mit der Assistenz von Teja Knut-Kremke und Egon Bischoff in Ostberlin geleistet. Noch 1977 heißt es bei der Premiere eines neuen Stuttgarter „Dornröschen“: Choreografie Rosella Hightower nach Überlieferung durch Bronislawa Nijinska (ohne dass zumindest ein „nach Petipa“ registriert wurde).

Den Beginn der Reihe der großen, eigengeprägten Klassiker-Einstudierungen aus dem Petipa-Erbe mit dem Versuch einer zumindest teilweisen seriösen Annäherung an die Petipa-Tradition kann man wohl mit Crankos Stuttgarter „Schwanensee“ von 1963 ansetzen – noch bei Beriozoff konnte kaum von dem Ehrgeiz, seiner Produktion einen Eigenstempel aufzudrücken die Rede sein. Das geschah, wie gesagt, erst mit Crankos nachdrücklicher Schärfung des Rollenprofils von Prinz Siegfried, die dann Nurejew bei seiner „Schwanensee“-Inszenierung 1964 in Wien noch intensiviert hat – kein Wunder, da er selbst den Prinzen tanzte. Dabei konnte sich Cranko auf seine englische Erinnerung an die Überlieferung der Tschaikowsky-Klassiker in den St. Petersburger Inszenierungen stützen, deren Aufzeichnungen Nicholas Sergeyev bei seiner Emigration in den Westen mitgebracht hatte, und die zur Grundlage der ersten westlichen Produktionen beim jungen englischen Vic Wells und Sadler‘s Wells Ballet und bei Mona Inglesbys International Ballet wurden (sie befinden sich heute in der Theatersammlung der amerikanischen Harvard Universitätsbibliothek und dienen bis in die unmittelbare Gegenwart – inzwischen auch wieder in Russland – als Basis der meisten Einstudierungen im Westen wie im Osten).

Mit seiner Kirow-Vergangenheit wird Nurejew so peu à peu zum Petipa-Botschafter in Westeuropa, der zwar in der halben Welt zu Hause ist, aber immer wieder nach Wien zurückkehrt, und der dann 1982 ja auch die österreichische Staatsbürgerschaft erhält. Seinem Wiener „Schwanensee“ folgen 1966 die Einstudierungen von „Don Quixote“, 1980 von „Dornröschen“ und 1985 von „Raymonda“ mit dem Staatsopernballett. Man müsste einmal den Stammbaum der deutschen (österreichischen und Schweizer) Ballettklassiker nachzeichnen, der sich von der russischen Wurzel herleitet und dann verzweigt zu den diversen exilrussischen Ästen der Tradition des Ballet Russe de Monte Carlo – bezeichnet durch die Namen Nicholas Sergeyev, Bronislava Nijinska, und Nicolas Beriozoff, dann in der folgenden Generation durch Peter Wright (der namentlich durch seine Einstudierungen hierzulande in München und Köln wertvolle Pionierdienste geleistet hat), mit Nurejew als Kristallisationsfigur und in seinen Pariser Spuren Patrice Bart, gefolgt von Natalia Makarova bis hin zu Vladimir Malakhov. Viel Stoff also für die Diplomarbeiten unserer demnächst zu erwartenden Bachelor-Studenten der Tanzwissenschaft, den Details dieser Übernahmen nachzuspüren.

Hier kann nur auf ein paar herausragende Inszenierungen verwiesen werden. Besonders nachhaltig meinem Gedächtnis eingeprägt hat sich Kenneth MacMillans „Dornröschen“ von 1967 an der Deutschen Oper Berlin – durchaus eine traditionalistische Produktion, also als Fortsetzung der Londoner Sergeyev-Linie, die ihre Eigenprägung erhielt durch die Ausstattung von Barry Kay – ein Wintermärchen, das das Werk aus seinem französisch-russischen Ambiente direkt in das Herz des russischen Imperiums, den Moskauer Kreml, transplantierte. Zwanzig Jahre später schuf Marcia Haydée zusammen mit Jürgen Rose in Stuttgart ihre aufsehenerregende „Dornröschen“-Inszenierung, die die Rolle der Carabosse erheblich aufwertete und so dem Werk zu einer kaum vermuteten dramatischen Schlagkraft verhalf (die sich seither bei noch jeder Wiederaufnahme erneut bestätigt hat). Weniger erfolgreich verlief Peter Schaufuss‘ Anfang der neunziger Jahre an der Deutschen Oper Berlin unternommener Versuch, die drei Tschaikowsky-Klassiker zu einer Trilogie zu bündeln, „die auf den verschiedensten Ebenen – vom Märchen bis zum menschlichen Erleben, das uns als heutige Menschen betrifft – bewegt“ und dabei allerlei biografische Tschaikowsky-Bezüge integriert.

Stärker noch als „Schwanensee“ und der „Nussknacker“ hat „Dornröschen“ (wie gesagt seit 1949) die Berliner Ballettgeschichte geprägt – bis hin zu Malakhovs jüngster Einstudierung von 2005, die das Ballett beim Wort nahm und einen veritablen Rosengarten auf die Bühne zauberte. Weit entfernt vom Original hat sich Youri Vámos, der bei seinem ersten Engagement als Ballettchef Ende der achtziger Jahre in Dortmund „Dornröschen – Die letzte Zarentochter“ herausbrachte – eine Genealogie der Romanows mit der angeblichen Zarentochter Anastasia im Mittelpunkt. Ausgesprochen radikal – wie schon in seiner vielgerühmten „Giselle“-Version (die auch vom Münchner Staatsopernballett übernommen wurde) – gab sich Mats Ek, als er in seiner Hamburger Einstudierung von 1996 Aurora als quengeligen, pubertierenden Teenager und Drogenkonsumentin präsentierte, die schließlich an einer mittels Nadel injizierten Überdosis kollaboriert.

Es war dann Hamburg, das sich am konsequentesten Schritt für Schritt an Tschaikowsky und Petipa heranarbeitete, nachdem John Neumeier 1973 dort Ballettchef geworden war. Als Tänzer war er in den Stuttgarter Klassikerproduktionen aufgewachsen – also in der Linie von Beriozoff und Cranko. Seine erste eigene Klassikereinstudierung war dann 1971 in Frankfurt der „Nussknacker“ gewesen. Dabei handelte es sich freilich noch um ein Provisorium: eine eingeschobene Premiere, die nichts kosten durfte und auf vorhandene Dekorationen zurückgriff. In seinem Konzept, das sich weitgehend von der Weihnachtsthematik des Originallibrettos löst, geht es – wie schon bei Cranko – um eine bürgerliche Familie und den 12. Geburtstag von deren Tochter Marie, die wie ihre Schwester Tänzerin werden möchte. In ihrem Traum entwirft Neumeier ein Bild vom klassischen Tanz am Ende des 19. Jahrhunderts, als dessen Hofballettmeister er Drosselmeier als eine Art Petipa ins Spiel bringt. Das erscheint schon viel detaillierter ausgearbeitet in seinem „Nussknacker“ von 1974, der am Anfang seiner Hamburger Klassikerpflege steht, gefolgt 1976 von seinen „Illusionen – wie Schwanensee“ und 1978 von „Dornröschen“. Sind die historischen Referenzen in seinem „Nussknacker“ zur St. Petersburger Petipa-Ära und im „Schwanensee“ zum Schicksal König Ludwigs II. von Bayern evident, so verzichtet er in „Dornröschen“ auf einen derart konkreten historischen Bezug.

Hier geht es ihm um die Gegenüberstellung von originalem Zeitstil und moderner Choreografie, und zu diesem Zweck hat er sich mit Peter Appel verbündet, einer international renommierten Petipa-Autorität, der in einem sehr ausführlichen Interview mit Angela Dauber, abgedruckt im Jahrbuch der „Vierten Hamburger Ballett-Tage 1978“, Stellung bezogen hat über „Stil und traditionelle Überlieferung“ anlässlich der Rekonstruktion der Originalchoreografie. Dabei beruft sich Appel auf seine Begegnung im Paris der fünfziger Jahre mit drei Ballerinen, die noch unter Petipa getanzt hatten: Preobrajenska, Egorova und auch Kschessinskaja, später dann auch noch mit Abderahman Kumysnikow, den er seinen bedeutendsten Lehrer nennt, vom Leningrader Kirov-Ballett. Appel analysiert hier exakt die Technik und den Stil der überlieferten Petipa-Choreografien – auch ihre Weiterentwicklung nach dem Tod von Petipa – von den Feen-Variationen des Prologs über die diversen Soli, das Rosen-Adagio, die Ensembles der Visions-Szene bis zum Grand Pas de deux des Finales. Es ist ein Text, acht dicht gefüllte Seiten lang – ein deutschsprachiges Handbuch der Petipa-Praxis, dessen Kenntnis Voraussetzung für jede Auseinandersetzung mit dem Petipa-Erbe sein sollte.

Neumeier hat dann seine Hamburger Bemühungen um eine zeitgemäße Aneignung der St. Petersburger Klassik fortgesetzt mit „Giselle“, die er 1983 von Galina Ulanowa inszenieren ließ, dem schon erwähnten alternativen Mats Ekschen „Dornröschen“ von 1996, einer nochmaligen „Giselle“ von 2000 – für mich die beste aller „Giselle“-Produktionen der letzten Jahrzehnte nach Peter Wright, mit der Zuschreibung: Neue Choreografie und Inszenierung – John Neumeier, Traditionelle Choreografie – Jean Coralli, Jules Perrot und Marius Petipa, Künstlerische Beratung: Natalia Makarova – und zuletzt 2002 „La Bayadère“ in der Choreografie und Inszenierung von Natalia Makarova nach Petipa, die Makarova zuerst 1980 beim American Ballet Theatre herausgebracht hatte (und die heute die weltweit häufigste, von zahlreichen Kompanien in allen Erdteilen übernommene Version ist – leider, denn sie hat erhebliche dramaturgische Schwachstellen, und ich hätte mir gewünscht, dass Neumeier zusammen mit Makarova eine eigene Hamburger „Bayadère“ erarbeitet hätte.

Noch vor Hamburg hatte das Bayerische Staatsballett 1998 „La Bayadère“ herausgebracht – Choreografie: Patrice Bart nach Marius Petipa (wobei sich Bart auf seine Erfahrungen als Assistent von Nurejew bei dessen Pariser „Bayadère“ stützen konnte). Und auch das Wiener Staatsopernballett hatte bereits vor Hamburg 1999 „Die Bajadere“ in sein Repertoire aufgenommen: Choreografie Vladimir Malakhov nach Marius Petipa in einer dramaturgisch erheblich aufgewerteten Version, von der besonders der meist verkürzte Schlussakt profitierte (2002 übernommen vom Ballett der Deutschen Staatsoper Berlin). So, dass also derzeit vier unserer Kompanien „La Bayadère“ tanzen – wer hätte das noch Anfang der neunziger Jahre für möglich gehalten!

Gegenüber den Tschaikowsky-Klassikern mit ihrem Petipa-Anteil (übrigens auch bei Heinz Spoerli in Basel, Düsseldorf und Zürich sowie bei Uwe Scholz in Zürich und Leipzig) nimmt sich die Zahl der bei uns erfolgten Produktionen von Petipas „Don Quixote“ und „Raymonda“ sowie „Paquita“ recht bescheiden aus. Selbst Vera Krasovskaya tut sich in ihrem „Don Kichot“-Beitrag zu „Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters“ schwer, auseinanderzuhalten, was denn an den heute getanzten Versionen noch wirklich von Petipa und was von Alexander Gorsky und seiner 1900 für Moskau arrangierten Einstudierung stammt. Was das Publikum indessen nicht daran hindert, an den in den letzten Jahren in München (Ray Barra), Berlin (Bart), Stuttgart (Maximiliano Guerra) und Dresden (Vladimir Dereviano) einstudierten Fassungen wie auch an der jüngsten Version von Spoerli in Zürich sein helles Vergnügen zu haben – und das gilt auch für die auf ihre kleineren Ensembles zugeschnittenen Produktionen in Essen (Sergej Gordiyenko) und Karlsruhe (Jaroslav Slavicky).

Seltener noch sind Einstudierungen der kompletten „Raymonda“ – was zu bedauern ist, da die Musik von Alexander Glasunow durchaus mit den drei Tschaikowsky-Klassikern konkurrieren kann. In Erinnerung geblieben ist die „Raymonda“ von 1975 an der Deutschen Oper Berlin – eine Gemeinschaftsproduktion von Tatjana Gsovsky (1. und 2. Akt als Finale ihrer Theaterkarriere) und Beriozoff (3. Akt). Hier dürfte es interessant sein, einen Archäologen der Choreografie die Überreste des Petipaschen Originals freilegen zu sehen (und andererseits die namentlich für die Divertissementsaufführungen der „Raymonda Variations“ besorgten Eigenbeiträge von Balanchine zu identifizieren). In Zürich gab es bereits 1972 eine komplette „Raymonda“, inszeniert von Nurejew, und dann wieder 1993 von Bernd Bienert, die aber mehr Aufmerksamkeit durch den vom Architekten Aldo Rossi entworfenen Bühnenraum als durch irgendwelche besonderen choreografische Meriten auf sich zog.

Im Anschluss an die seit Konstanze Vernon kontinuierlich gepflegte Münchner Klassiker-Tradition hat sich auch ihr seit 1998 als Direktor des Bayerischen Staatsballetts wirkender Nachfolger Ivan Liška intensiv um das Klassikerrepertoire gekümmert und bei der Einstudierung der „Raymonda“ 2001 durch Ray Barra stolz darauf verwiesen: „Keine deutsche Ballettkompanie und nur wenige der größten im internationalen Vergleich haben ein derart aktives Repertoire an abendfüllenden klassischen Werken des 19. Jahrhunderts wie das Bayerische Staatsballett.“ Wie Peter Appel sich in einem Gespräch mit Angela Dauber ausführlich zu seiner Konzeption der Hamburger „Dornröschen“-Choreografie geäußert hat, so Ray Barra in einem Gespräch mit Wolfgang Oberender im Programmheft der Münchner „Raymonda“ zum Verhältnis von Überliefertem und Neuem bei der Produktion eines Petipa-Klassikers.

Als verbindlich überlieferte Petipa-Piecen reklamiert Barra „Im Wesentlichen die Choreografie der Frauen-Variationen, d.h. Raymondas und ihrer Freundinnen Bérénice und Henriette, dann der Grand pas hongrois im letzten Bild und verschiedene Tänze des Corps de ballet ...“ Später bekennt er dann, auch originale Petipa-Nummern geändert zu haben: „Sie sind einfach zu simpel generell und ganz besonders für unser heutiges Zeit-Bewusstsein. Es ist keine geniale Einfachheit, eher ein Zeichen von Altersschwäche, wovon bei den Frauen-Soli und im Grand pas absolut nichts zu spüren ist.“ Wo notwendig, hat er „neu choreografiert. Aber im Geist von Marius Petipa, möchte ich sagen. Das heißt unter häufiger Verwendung des Petipa-Schrittmaterials, aber in anderer, dynamischerer Konstellation.“

Wie problematisch eine heutige Anverwandlung der angeblich originalen Choreografie von Petipa ist, hat die sehr kontrovers aufgenommene St. Petersburger Einstudierung von „Dornröschen“ als Versuch einer Rekonstruktion des Originals von 1890 (auch in der Ausstattung) im Jahr 1999 bewiesen: interessant für die balletthistorischen Connaisseurs in aller Welt – und deshalb mehr ein Ausstellungsstück auf den Auslandstourneen des Maryinsky-Balletts als eine Produktion für die normale Aufführungspraxis, die auch in St. Petersburg längst wieder zum dortigen Standardmodell à la Konstantin Sergejew et sequentes zurückgekehrt ist (während das Moskauer Bolschoi-Ballett nach all den Querelen mit seinem früheren Direktor Juri Grigorowitsch wieder dessen Version tanzt). So bleibt es wohl bei der heute international gängigen Praxis, die mit dem Siegel des Originals ausgezeichneten Petipa-Choreografien als besonders kostbare Juwelen in die mit höchstem stilistischen Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Tradition vorgenommenen Rekonstruktionen einzufügen.

Was „Paquita“ angeht, so hat es bei uns bisher noch keinen Versuch einer Einstudierung des kompletten Balletts von Mazilier und Minkus aus dem Jahr 1846 gegeben, das Petipa als erste seiner St. Petersburger Inszenierungen 1847 herausgebracht hat, und das seither als Divertissement mit der choreografischen Zuschreibung an Petipa überlebt (zuletzt in einer Einstudierung von Birgit Keil 2005 in Karlsruhe und in einer kontroversen Wiener Produktion im September dieses Jahres). Jetzt wartet alle (Ballett-)Welt auf die deutsche Erstaufführung von Petipas „Le Corsaire“ beim Bayerischen Staatsballett, für die Ivan Liška verantwortlich zeichnet, der eigens einen Petipa-Spezialisten aus Harvard hinzugezogen hat. Nie zuvor hat sich Petipa auf internationaler Ebene eines solchen Ansehens wie heute erfreut.

Vielleicht war es ja Balanchine, der als Petipas legitimer choreografischer Erbe unseren Blick für seine historische Bedeutung geschärft hat. Immerhin hat Balanchine bereits 1967 in einem Symposium über Petipa in Saratoga Springs „Petipas philosophische Methode als die absolute Norm choreografischer Produktion“ deklariert. Und weiter: „Das Theater ist der Ort, wo das Widersinnige immer möglich ist. Theatertechniken lehren die Produktion des Unmöglichen. Damit das Unmögliche geschieht, braucht es weit mehr als Inspiration, Veränderung, Neuheit oder Zauber. Eine derbe, beinahe bäurische und gleichsam eigensinnige Energie ist notwendig, die Energie zum Überleben und die Energie zum Produzieren, nicht mit dem Experiment, sondern mit Erfahrung. Diese Fähigkeiten verkörperte Petipa in hohem Maß, und deshalb stelle ich ihn über jede anderen Meister unseres Handwerks, unserer Kunst (falls es eine Kunst ist)“ – im Sammelband „Marius Petipa – Meister des klassischen Balletts“.

Für Informationen zu diesem Artikel bedanke ich mich bei Peter Appel, Rebstein/Schweiz; Andreas Büschel, Dortmund; Annegret Gertz, Berlin; Telse Hahmann, Hamburg; Wolfgang Oberender, München; Alfred Oberzaucher, Wien; Thomas Thorausch und den Mitarbeitern des Deutschen Tanzarchivs Köln. Mein besonderer Dank gilt auch den beiden Redakteurinnen vom tanznetz.de für die ständige exzellente redaktionelle Betreuung und natürlich den vielen Usern, die mir immer wieder versichern, wie sehr sie das koeglerjournal zu schätzen wissen.

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern