DANCE-Festival 2006: Lia Rodrigues

Visionen der Gewalt und zerdrücktes (Ketchup-)Herz

München, 03/11/2006

Am Anfang war die Welt in Ordnung! Nach diesem Grundsatz, so könnte man annehmen, beginnt Lia Rodrigues tänzerisches Manifest „Incarnat“ (Fleischwerdung) in der Muffathalle mit einem Kreis-Lauf der neun sich an Händen haltenden Mitglieder ihrer brasilianischen Compañhia de Danças. Immer schneller dreht sich der Reigen und weitet sich, bis die Tänzer in verschiedene Richtungen auseinandergehen, sich wieder kreuzen und Paare bilden. Der markerschütternde Schrei einer Frau bereitet dieser Illusion von geschäftiger Harmonie ein Ende und leitet eine Folge von skulpturalen Bildern und bewegten Tableaux ein, die den Einfluss des lateinamerikanischen Dramas nicht verhehlen. Ein Fries von vier nackten Männern, die langsam zu Boden sinken, eine weich sich windende Tänzerin, deren Solo von Hektik gepeitscht abbricht und Blut, das einen entblößten Rücken hinunterrinnt – Szenen, die im weiteren Verlauf des Stücks (unter Verwendung zahlloser Ketchupflaschen als Blutersatz) massive Steigerung erfahren und uns assoziativ an das von der Choreografin gewählte Thema heranführen: Leid, Gewalt, Schmerz, Tod und voyeuristischer medialer Umgang mit dem Krieg.

Männer – Hyänen gleich – fallen über eine Frau her, zerfleischen sie und zerren ihren Kadaver, das Shirt zwischen den Zähnen, über den Boden. Im imaginären Bombenhagel und Schussgewitter wird athletisch ums Überleben gekämpft, und wenn das Theaterblut schon in Strömen aus der Bauchgegend fließt, suhlt man sich genießerisch darin und dreht in der glibberigen Masse noch einige Pirouetten auf dem Allerwertesten, bevor der Tod den Rest erledigt. Lia Rodrigues beherrscht ihr Handwerk und weiß, wie sie mit den Körpern ihrer Tänzer eindrucksvolle Bilder von hintergründiger Tragweite in den Raum malen kann. Mit sicherem Gefühl changiert sie zwischen laut und leise, zwischen gnadenloser Folter und hoffnungsloser Zärtlichkeit. Bisweilen erinnern ihre dem Tanz zugeordneten Sequenzen an die kubofuturistischen Gemälde eines Gino Severini, und in lautmalerischen Exkursen lässt sie, wenn auch nicht leicht verständlich, Vorbilder wie Michelangelo, Goya, Francis Bacon oder Picasso ausrufen.

Das einzige, was ihr nicht gelingt, ist der große dramatische Bogen. Zu sehr bleibt sie an den realen Vorgaben kleben, vermittelt körperplastisch und künstlerisch ambitioniert, was so oder ähnlich auch das Fernsehen an brutalen Ereignissen zu bieten hat. Erst zum Schluss konterkariert sie das plakativ Grausame mit einem an alte Rituale gemahnenden Coup: Das Opfer aus einem Plastiksack wird mit Tüchern gesäubert, niedergelegt und unter melodischem Gemurmel mit ethnischen Punktmustern geschmückt. Für einen Augenblick scheint die Schönheit des Todes auf. Wenige Armbewegungen später weicht dieser Eindruck und mitten im Raum steht dieselbe Frau: blutverschmiert.

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