Das DANCE-Festival 2006

Bipolarer Auftakt zwischen Postmodern Dance und zeitgenössischer Performance-Show: Trisha Brown und Dave St-Pierre

München, 31/10/2006

Geschliffene Kristalle der 1970er Jahre – Der Postmodern Dance Ikone Trisha Brown gehörte am Spätnachmittag des 28. Oktober der stille, zum Teil geradezu poetische Auftakt zur wenig später folgenden schrillen (quasi offiziellen) Eröffnung des 10. Internationalen DANCE-Festivals der Landeshauptstadt München durch den kanadischen Shooting-Star Dave St. Pierre. Vier frühe Stücke der amerikanischen Tänzerin und Choreografin aus den 1970 Jahren standen auf dem mit „Early Pieces“ nüchtern betitelten Programm und entführten die Zuschauer für eine kurzweilige Dreiviertelstunde zurück in die Welt der experimentellen Bewegungskunst aus der Zeit des legendären Judson Church Dance Theatre (dessen Mitbegründerin Brown 1962 war).

Fünf Tänzerinnen liegen brav aufgereiht auf dem Steinboden der wunderbar lichten E.ON Piazza, die Festivalleiterin Cornelia Albrecht mit besonderer Treffsicherheit für Browns minimalistisch dicht gesponnene Formstudien – und darüber hinaus als neuen, architektonisch interessanten Raum für Aufführungen von Performances – entdeckt hat.

Gerade noch hatte man sich um ein quadratisches Klettergerüst geschart, an dem verschiedenste Kleidungstücke an Seilen befestigt den einzigen Halt für die Performer Todd Stone und Neal Beasley boten: „Floor of the Forest“ überraschte mit netten Einblicken in die Problematik, sich gegen die Schwerkraft in Hosen und Pullover zu zwängen, ließ darüber hinaus jedoch jegliche tänzerische oder wirklich spektakuläre Ambition außen vor. Im Rahmen der Hommage an Browns künstlerische Entwicklung – ungewöhnliche öffentliche Plätze wie z. B. Wände oder Dächer von Hochhäusern zu bespielen und Begebenheiten aus dem Alltag in ihre Konzepte zu integrieren – erwies sich dieser kontrastierende Mittelteil der Stationen-Schau aber als schlüssig.

Mit erhöhter Aufmerksamkeit und Gier stürzte man sich auf die sich scheinbar endlos wiederholenden, synchronen Bewegungsschleifen der fünf schon erwähnten Tänzerinnen. Erst die anhaltende Betrachtung offenbarte winzige Abweichungen, individuelle Eigenheiten und eine sich langsam aber stetig steigernde Intensität in der Ausführung, die in der Drehung um die jeweils eigene Körperachse kulminiert. „Group Primary Accumulation“ hat Brown diese Studie genannt, der sie ein Jahr später das Solo „Accumulation“ nachstellte. Sandra Grinberg hatte es ganz zu Anfang mit überwältigend zurückhaltendem Charme auf den Song „The Grateful Dead“ der Uncle John‘s Band interpretiert und bewiesen, wie raumfassend kleinste Akzente der Hände, Finger, Hüften und Fußgelenke sein können, auch wenn die Tänzerin sich keine Spur von ihrem Anfangspunkt fortbewegt. Zum Abschluss war Browns beliebter Evergreen „Spanish Dance“ zu sehen, bei dem die Tänzerinnen sich – in größtmöglicher Gleichgültigkeit und angetrieben von Bob Dylans „In the early morning rain“ – im Dominoeffekt und legerer Flamencoallüre über den Raum schieben, bis die Wand ihnen Einhalt gebietet. Der Einstieg in das Festival-Motto „“Körper Sphären“ erfolgte hiermit in medias res. Heftiger Applaus und große Erwartungen auf das „Neue Stücke“-Gastspiel der Trisha Brown Dance Company im Staatstheater am Gärtnerplatz.

Keine Zeit für Zärtlichkeit: Variationen über ein ausgelutschtes Thema – Ein seltener Fall: Vor Beginn der Performance betritt Dave St-Pierre das Bühnenplateau in der Muffathalle und gibt eine Erklärung ab. Aus Rücksicht auf Cornelia Albrecht und aufgrund der „bayerischen Rechtslage“ werde sein „in residence“ für DANCE erarbeitetes Stück „Un peu de tendresse bordel de merde!“ – bedauerlicher Weise – nicht in der Originalversion zu sehen sein. Ist‘s ein Verlust oder ein Gewinn? Nach gut zwei Stunden denkt darüber wohl niemand mehr nach, denn das in den internationalen Choreografenhimmel gelobte „enfant terrible“ bleibt mit seiner in bewährter Manier als Schocker aufgebauter Performance weit hinter dem zurück, was es schon vor zwei Jahren unter dem Titel „Bare Naked Souls“ an moral- und gesellschaftskritischer Radikalität zeigte. Schon damals sahen wir über weite Strecken der in krude Bilder getauchten Performance nacktes Fleisch: Männer und Frauen, die über die Bühne rannten, dünn oder dick, darunter eine Frau, die sich beim Laufen die schwingenden Brüste hielt. Der aus Montréal stammende Tänzer und Choreograf Dave St-Pierre – damals die Neuentdeckung der Szene und anlässlich von DANCE zum ersten Mal in Europa unterwegs – machte sein Publikum zum Komplizen in einem makabren Spiel um Tod, Trauer, Sexualdelikte, Verführung und Verletzlichkeit. Zu erklären, hinterfragen oder Antworten zu suchen weigerte er sich, schließlich hatten „die Zuschauer ja gezahlt, um ihre voyeuristischen Triebe zu befriedigen“…

In diesem Jahr also wieder eine Show, die darstellerisch überzeugen kann, weil – wie uns gesagt wird – „Tänzer alles machen, was man von ihnen verlangt – und das für Peanuts!“. Seiner Riege an erstklassigen Performern stellt Dave St-Pierre eine girliehafte Moderatorin zur Seite, die sich Sabrina nennt und – ganz USA geschulter Profi – mit Anweisungen und Kommentaren durch den Abend führt. Natürlich fällt auch sie aus der Rolle, brüskiert ihren Verehrer, indem sie seinen selbstgebackenen Kuchen zum Selbstbefriedigungsobjekt auf der Picknickdecke macht (welch sinnlose Schweinerei!) und zum Schluss das große Schwimmen und scooterähnliche Gleiten auf nasser Fläche einleitet: ein romantisch-apokalyptisches Bild nackter Leiber, das in den letzten Minuten pseudotänzerische Poesie aufkommen lässt.

Zum Thema hat St-Pierre sich die Zärtlichkeit erkoren – und führt uns in ersten, starken Momenten ihre fragile Fatalität vor Augen: Eine Frau fuchtelt angesichts ihres uninteressiert starren Partners mit den Armen und versucht immer krampfhafter ihrem Gegenüber Liebesgefühle zu entlocken. Vergeblich. Das dem Körper entrungene „I will you“ verhallt antwortlos. Dass es auch hysterischer geht, zeigt ein zweites Paar, wonach Sabrina uns – obwohl wir es da noch nicht ganz verstehen – in den eigentlichen Knackpunkt des Abend einweiht: SEX! Nicht mehr und nicht weniger, dafür aber in seinen niedrigsten Sphären (die verschiedenen Körpersäfte all inclusive!). Es folgt eine Serie von gut arrangierten Schauspielübungen (Männer schlagen sich z. B. ins Gesicht, bis ihnen die Tränen kommen) und sportlichen Tanzsequenzen, die von einer Gruppe weibisch kreischender Nackter mit blonden Perücken dominiert werden. Und schon sind wir mittendrin in Dave St-Pierres trotz viel nackter ekstatischer Hingabe und wenigen bekleideten Ruhephasen letztlich ins Leere laufender „Musical-Creation“. Nur einmal noch gelingt St-Pierre der Schritt aus der Eindimensionalität, als er zwei seiner „Blondies“ die oben beschriebene Anfangsszene nachspielen lässt – mit dem Unterschied, dass die Männer am Ende ihre Verkleidung aufgeben: Potenzial, das zu bearbeiten sich gelohnt hätte. St-Pierre entschied sich dagegen und ertränkte vorhandene Ansätze in einem Wasserballett, dass – immerhin – einige erleichterte Lacher provozierte.

Und die Moral von der Geschicht? Verliebe dich … Ein Tipp vielleicht auch für den an sich so sympathischen Kanadier, der uns mit einem Schlussbild aus ineinander verschlungenen Körpern ins Private entließ.

Trisha Brown – Zweiter Abend – Die Kunst des Stillstands: Trisha Brown choreografiert ihr eigenes Museum. Das Gärtnerplatztheater barst aus allen Nähten und ein zum Großteil „hausfremdes“ Publikum wartete gespannt auf die Deutsche Erstaufführung des mit dem Award of Distinction ausgezeichneten Stücks „how long does the subject linger on the edge of the volume“ von Trisha Brown. In welcher Konsequenz oder in welchem Gegensatz zu den „Early Pieces“ würde das erst 2005 uraufgeführte Werk stehen? Das Resultat war schon nach wenigen Sekunden ernüchternd, ja regelrecht frustrierend: Mit ihrem Versuch, interaktive Computersimulationen „à la Cunningham“ und ein daran orientiertes Bewegungsvokabular zu kombinieren, katapultierte die Ex-Erneuerin sich zurück in die Vergangenheit der bieder-schwerfällig wirkenden 1960er Jahre.

Geometrische Projektionen auf einem durchsichtigen Rampenhänger, die sich bei Zeiten in lichte Rauchschwaden verwandelten, und eine elektroakustische Soundkulisse machten die Bühne zu einem Experimentiergefäß, in dem sieben Tänzer in drögen Ganzkörpertrikots – Mädels in blau, Jungs in rot – gleich Elementarteilchen den Raum durchmaßen. Dass sich dabei immer wieder tatsächlich schöne Harmonien ergaben, z. B. wenn der tröpfelnde Fluss der Gruppe die flockige Leichtigkeit der Lichtbilder aufnahm, entschädigte allerdings nicht für fehlende Brisanz und Novität.

Immerhin ist dies offenbar eine Konstante in Trisha Browns jüngerem Schaffen, was auch die beiden folgenden Stücke des Abends zeigten. Ganz dem Titel entsprechend schickte sie in „Geometry of Quiet“ (2002) sechs Tänzer auf eine Reise ins weiß-grau-beige Nichts. Begleitet von hauchenden Windgeräuschen und säuselnden Flötenklängen zogen sie dreieckige Segeltücher aus den Kulissen und beschworen mittels zeitlupenhafter Präsenz und immer wiederkehrenden, dekorativen Posen eine asiatisch anmutende Atmosphäre herauf, die – da sowohl farblich, klanglich wie bewegungstechnisch minimalistisch und reduziert – in ihrem Erlebniswert unspektakulär blieb.

Fast dankbar blickte man daraufhin während des letzten, ebenfalls ca. 20-minütigen Tanzstücks auf einen belanglos asymmetrischen, mit vier Farbflächen bemalten Hintergrundprospekt und genoss John Cages frühe Sonaten und Interludes. Endlich durften die sieben Mitglieder der Company sich frei tanzen und etwas wie Freude am Drehen, Springen, Fallen und Schwingen aufs Publikum übertragen. Doch die Welt, die Trisha Brown ihnen in „Present Tense“ 2003 auf den Leib choreografiert hat, entpuppte sich – wie schon zweimal zuvor – als emotions- und über weite Strecken hinweg aussagelos.

 

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