„Cinderella“, interplanetarisch

Das Bolschoi-Ballett im New Look

oe
Baden-Baden, 23/12/2006

Nach Jahren wieder einmal in Deutschland zu Gast: das Moskauer Bolschoi-Ballett – und das in Baden-Baden, bisher Reservat der St. Petersburger Mariinsky-Konkurrenz. Mit Sergej Prokofjews „Cinderella“ – in der Anfang des Jahres herausgekommenen Produktion von Yuri Possokhov (Choreografie) und Yuri Borisov (Inszenierung), ausgestattet von Hans Dieter Schaal und Sandra Woodall, mit dem Orchester des Bolschoi-Theaters unter der Leitung von Igor Dronov. Bolschoi im New Look.

Die Story, von Borisov dramaturgisch nicht sonderlich plausibel etwas aufgemöbelt, beginnt auf einem fernen Planet, mit einem Erzähler, der Prokofjew sein soll (lesen wir im Programmheft) und dann die Funktion der Guten Fee übernimmt und seine Gehilfin (Frau Prokofjew) in Cinderella verwandelt, um sie sodann auf die Erde in die Familie der schrulligen Mutter mit ihren beiden hässlichen Töchtern zu expedieren (ohne Vater). Das ist ziemlich an den Haaren herbeigezogen, verläuft dann nach Nikolai Volkovs originalem Libretto-Plan, mit den Reisen durch die Jahreszeiten, dem Ball, der Suche nach dem passenden zweiten Schuh, die zu Abstechern bei Marlene Dietrich und Maria Callas und schließlich zum Happy End für Cinderella und den Prinzen führt, während Prokofjew auf seinen Planeten zurückkehrt, allein, wissend, dass er seine Gehilfin/Frau nie wiedersehen wird (denn er hat sich von ihr gemäß dem Gebot der Partei getrennt).

Der Verlust an Humanität, aber auch an Humor, ist enorm: ein Märchen, so kalt wie der Weltraum! Das Ganze amerikanisch glamourisiert. Possokhov, inzwischen um die vierzig, ist ein Produkt der Moskauer Bolschoi-Kaderschmiede, war dort auch zunächst als Tänzer engagiert, seit 1992 dann im westlichen Ausland bei den Königlichen Dänen und Helgi Tomassons Franiskanern, ist inzwischen Hauschoreograf des San Francisco Ballet und hat bereits eine Reihe von Balletten choreografiert – erfolgreich, wie es heißt. Er ist als Klassiker ein Routinier, der vielerlei Stile beherrscht, bis hin zum Musical, ohne besonders ausgeprägte eigene Handschrift – mit nicht sonderlich großem Schrittvokabular, im langatmigen Schluss-Pas-de-deux ausgesprochen langweilig, und auch die Solovariationen geraten ihm nicht über die üblichen Schularrangements hinaus. Von seinem Regisseur ist er total im Stich gelassen worden – der Prokofjew-Bezug ist überhaupt nicht nachvollziehbar, die Aktion mit der Uhr ist geradezu fahrlässig gehandhabt, die Episoden mit der Dietrich und der Callas ergeben keinen Sinn, die Kostüme könnten für eine Broadway-Revue entworfen sein. Da wäre uns eine der Schostakowitsch-Produktionen von Ratmansky, dem offenbar viel begabteren Bolschoi-Chef, entschieden lieber gewesen (besonders dessen neulich bei uns via Arte gezeigter „Bolzen“).

Gleichwohl, nach so langer Zeit das Bolschoi-Ballett wieder einmal zu sehen, bereitete ausgesprochenes Vergnügen. Jung, schlank, mit einer geradezu heißhungrigen Lust tanzen die Moskowiter und kommunizieren überschwängliche Lebensfreude – Botschafter eines neuen Russland, wie Putin sie sich nicht sympathischer wünschen könnte. Mit blitzender Attacke heben die Jungensensembles vom Boden ab und katapultieren sich in die Luft. Die Jahreszeiten-Feen, das ganze Getier, alles, was da kreucht und fleucht, präsentieren sich als Geschöpfe aus der Moskauer Edelfaktur. Als Cinderella benutzt Svetlana Zakharova ihre Beine wie einen Zauberstab, mit dem sie nicht nur ihr Gefolge, sondern auch das Publikum in ihren Bann zieht. Und Sergey Filin ist als Prinz ihr Zauberlehrling, ein Luftikus, der seine Bahnen in einem schönen Bogen mit Kondensstreifen durchmisst, um dann so sanft zu landen wie die Kosmonauten nach einem erfolgreichen Flug im Space-Shuttle. Indessen, wer sie wirklich sind, und was sie (und keine andere Truppe der Welt) wirklich können, das werden sie uns wohl erst am Donnerstag in ihrem „Don Quixote“ beweisen.

 

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