Choreografen bei Dance 2006 in München

Dave St. Pierre, Sarah Chase und Chris Ziegler

München, 02/11/2006

Dave St. Pierre, kanadischer Tanz-Rebell, eröffnet das Festival „Dance 2006“ 

Jung, radikal und kein Tabu, das vor ihm sicher ist: Der Ruf von Dave St. Pierre ist denkbar günstig, um für Aufsehen zu sorgen. Nackte auf der Bühne und das Wort „Pornographie“ im Titel sind in unserer Zeit ebenso verkaufsfördernde Argumente wie das exzessive, brutal spielerische Hochpeitschen von Gefühlen, das er mit der ganz großen Geste beherrscht. Schon nach seinem ersten großen Stück, „La pornographie des âmes“, das den Münchnern von „Dance 2004“ in Erinnerung sein dürfte, sprach man von einem spektakulären Wurf und handelte den Choreographen als Star auf dem Weg zum Welterfolg.

Schmal, blass, müde vom Jetlag und verschnupft saß er im Juli dieses Jahres in der Wohnung von Festivalmacherin Cornelia Albrecht, die sich die Uraufführung gesichert hat. Vier Wochen Arbeit an seinem neuen Werk standen ihm bevor. Am 28. und 29. Oktober wurde das Ergebnis „Un peu de tendresse bordel de merde!“ („Ein bisschen Zärtlichkeit, verdammt noch mal!“) in der Muffathalle präsentiert. Es eröffnete die städtische Tanzbiennale „Dance 2006“, die heuer zum zehnten Mal stattfindet.

„In den letzten beiden Jahren ist viel passiert“, erzählt Dave St. Pierre, „der Erfolg hier in Europa half mir sehr in meiner Heimat. Er brachte Geld und vor allem Glaubwürdigkeit.“ Mit „La pornographie des âmes“ gastierte er in Berlin, Salzburg und Amsterdam, er bekam den Frankfurter Mouson-Award und eine Reihe ausgezeichneter Kritiken. Zu Hause in Kanada standen ihm nun die Tore der großen Festivals offen. „Das war ein großer Sprung.“ Lange Distanzen scheinen für ihn kein Problem zu sein. Alle zwei Jahre ein Stück, das reiche, meint er. Er sei keine Maschine, die Werke kreiere, auch wenn der Druck jetzt, da Koproduzenten wie etwa „Dance 2006“ mit im Boot seien, natürlich zunehme. Geld beschleunigt. Doch drängen lassen will er sich nicht, zumal er großformatig denkt. „Un peu de trendresse bordel de merde!“ setzt „La pornographie“ fort, beide sollen später zu einem Triptichon erweitert werden. Im ersten Teil zeigte der Choreograph die dunklen Seiten einer Person: Leute, die mit dem Kopf durch die Wand gehen und dabei auch ihre Mitmenschen nicht schonen. Er brachte Gewalt, Macht, Vereinzelung in hart geschnittenen Szenen auf die Bühne. Das Stück dauerte lang. „Es war wie ein großes Kotzen“, sagt Dave St. Pierre sehr sanft.

Was bedeutet Pornographie für ihn? „Als ich 14 war, kaufte ich mir einen Porno und versteckte ihn vor meinen Eltern. Pornographie ist für mich etwas, was man versteckt.“ Nicht Nacktheit, nicht Sex, sondern etwas aus dem persönlichen Leben, was man verbergen will. „Dahinter stand die Idee: Hoffentlich sehen sie mich nicht!“ Etwas für sich behalten, nicht zeigen und veräußern zu wollen, dieses Gefühl bleibt, auch wenn die Eltern nicht mehr aufpassen. Sie bei deren Besuch offen herumliegen lassen, das würde man denn doch nicht. „Der Wunsch nach exklusiver Intimität prägt auch unsere Beziehungen.“ Warum bleiben manche Paare einen Tag zusammen und andere ein Leben? „Un peu de tendresse bordel del merde!“ kreist um Lust und Leid der Paarung, um zärtliche Momente und zarte Bindungen, um schleichende Veränderungen und die Zeit zwischen zwei Beziehungen. Zärtlichkeit als Schlüsselbegriff. Dave St. Pierre dekliniert die entsprechenden Fälle durch, spart die Asymmetrien nicht aus und wuchtet die krisenhaften Verwicklungen mit Lust am Trash auf die Bühne. Stationen der Liebe eben. Flüssiger, tänzerischer als „La pornographie“ sollen sie sein, weniger theatralisch und, wie oft betont, „zärtlicher“, aber um keinen Deut weniger rau. Gerade das betont er: „So bin ich.“ Der in Kanada als „enfant terrible“ skandalisierte Künstler steht hier mit seinem jugendlich-rebellischen Pathos für den unverstellten Blick auf gesellschaftliche Verhältnisse. Stichwort: Selbstentblößung in der Nachmittags-Talkshow. Das haut voll rein in Gemüter, die sonst einerseits auf die Metaebene choreographischer Selbstreflexion, andererseits auf die bündige Formulierung tänzerischen Ornaments konditioniert sind.

Dave St. Pierre zieht eine markante Spur in dem weiten Feld der „Körper Sphären“, das Motto von „Dance 2006“, das aus ganz unterschiedlichen Perspektiven und mit vielfältigen künstlerischen Mitteln den Körper und sein Umfeld kommentiert. Hier lässt sich der Mann aus Montréal verorten neben der Brasilianerin Lia Rodrigues, die für ihr Stück „Incarnat – Fleischwerdung“ Susan Sontags Essay „Das Leiden anderer betrachtet“ zum Ausgangspunkt nahm, und dem Multikünstler Jan Fabre aus Belgien, dessen Kreaturen die schmerzhafte Transformation ebenfalls nicht fremd ist.

Als einziger bei diesem Festival arbeitet Dave St. Pierre wie schon in seinem Vorgängerstück mit einem gemischten Ensemble aus Schauspielern und Tänzern. Er wähle die Akteure nicht, sagt er, „sie kommen und wir arbeiten zusammen“. „Ich mache keine Castings. Ich frage, ob sie zu einer Probe kommen wollen, dann können sie ausprobieren, ob ihnen meine Art gefällt.“ Die Energie ist ihm wichtig, nicht die Perfektion. Schauspieler bewegen sich auf eine andere Art als Tänzer. „Für mich ist das oft eine neue Art, sich zu bewegen, die auf mich zurückwirkt. Ich denke dadurch neu über Bewegungen nach. Diesen Sommer habe ich bemerkt, dass drei Schauspielerinnen Tanzunterricht genommen haben, weil es ihnen Spaß macht und sie es können wollen. Das ist mir auch recht.“ In dichten Arbeitsphasen, die von langen Pausen unterbrochen sind, entstehen Szenen aus Gesprächen und Improvisationen, aus dem Experiment. Zunächst reagiert der Choreograph darauf, indem er mit dem arbeitet, was ihm angeboten wird. Wenn nur an einem Abend in der Woche geprobt wird, wie bei „La pornographie“, und es allen Beteiligten freisteht, zu kommen oder wegzubleiben, dann funktioniert das nur, wenn für den Verantwortlichen im Moment jeder Beitrag, selbst die Abwesenheit der Performer, wertvoll ist. Er sammelt, bis er dann die Einzelteile zusammenpuzzelt, instinktiv, Stück für Stück. Weglassen will Dave St. Pierre nichts. „Ich will alles ausprobieren“, sagt er, „ich will es machen, auch wenn ich mir später die Haare raufen sollte.“


Vertrauen auf das Wunderbare im Alltäglichen Die kanadische Performerin und Choreografin Sarah Chase erzählt bei Dance Geschichten vom Verschwinden 

Von Pina Bausch heißt es, sie habe die Tänzer zum Sprechen gebracht. Seither folgen sie nicht mehr dem unausgesprochenen oder ausdrücklich eingeforderten Kommando „shut up and dance!“, sondern schreien, quietschen, singen Kinderlieder, lesen Geschichten vor oder skandieren Parolen. Eine sprechende Tänzerin besonderer Art ist Sarah Chase, deren Solo „The Passenger“ man beim Festival Dance im i-camp erleben kann. Die Stücke der kanadischen Performerin und Choreografin sind raffiniert gebaute und rhythmisierte Meisterwerke aus oral history und Tanz. Oft erzählt sie Familiengeschichten, zugespitzt auf einen magischen Zufall, der dadurch seine banale Zufälligkeit verliert. In ihrem Vertrauen auf das Wunderbare im Alltäglichen erinnern ihre Storys an Märchen und Mythen und sind dabei doch von der Lakonie und Klarheit, die gute Kurzgeschichten auszeichnet. Verwoben mit feinnervigen Choreografien aus Schwüngen und Schleifen des Oberkörpers und der Arme, mit oft kreisförmig geführten Bewegungen, präsentiert Chase Tanz und Text auf zwei gleichzeitig ablaufenden Spulen, live am Klavier begleitet vom Improvisationsmusiker Bill Brennan.

Auch „The Passenger“ beruht nicht auf einer detaillierten Vorlage. Chase weiß, was sie erzählen will, aber ihre Geschichten gibt es nicht auf Papier. Sie entstehen aus Erlebtem, Gelesenem, Gehörtem. Das sprechende Ich in diesen poetischen, tragischen, witzigen Geschichten bildet den Kristallisationspunkt, es erlaubt, Zeitgrenzen aufzubrechen und alle Epochen in eine Gegenwart zu integrieren. Da gibt es Berichte über die kanadischen Wandertauben, die 1872 in so großen Schwärmen über Toronto hinwegflogen, dass der Himmel über der Stadt drei Tage und drei Nächte lang verdunkelt war. Diese „passenger pigeons“, die dem Stück seinen Namen gaben, zählten einst zu den verbreitetsten Vögeln überhaupt, 1914 starb die Gattung aus. „Ich wohnte mehrere Jahre lang an einem Park in Toronto und las über das Schicksal der Wandertauben“, sagt Sarah Chase, „als ich von dort weggezogen war und die Stadt verlassen hatte, begann ich tanzend über diese Vögel nachzudenken und über die Nachbarschaft, in der ich lebte.“ „The Passenger“ handelt vom Verschwinden. Von verschwundenen Vögeln, einem Fluss, der einst den Park durchzog, einer Brücke, die dort stand, und von Menschen, die aus dem Blickfeld von Sarah Chase verschwanden, weil sie aus ihrer Nachbarschaft fortzogen. „Darum gibt es in „The Passenger“ auch eine Spur von Neil Young“, erzählt Sarah Chase. Die in den USA geborene und in Kanada aufgewachsene Künstlerin galt lange als Geheimtipp. Wer sie sah und hörte – etwa bei der Szene Salzburg, bei Theater der Welt, als Performerin von Raimund Hoghe und Benoît Lachambre –, erzählte von ihr weiter. Und erzählte so auch von sich. Denn: „Wenn du eine Geschichte hören willst, erzähle eine“, sagt Sarah Chase.


Neues aus der Elektrowerkstatt Der Video- und Medienkünstler Chris Ziegler 

Röhrchen, Stecker, Drähte und Computerteile: Wenn Chris Ziegler sein Handwerkszeug ausgepackt hat, wähnt man sich in einer Elektrowerkstatt. Stundenlang sitzt der Multimediakünstler am Tisch, steckt und klemmt zusammen, was später zur magischen Inszenierung werden soll. Am Beginn jeder neuen Idee steht zunächst ein technisches Problem: Meist muss Ziegler die Technologie, die er nutzen will, erst selbst entwickeln. Das dauert. Zwei Neonröhren, aufgehängt im Sommer 2004 in einem Flur des Tanzhauses NRW in Düsseldorf, markieren den Ausgangspunkt seiner neuesten Arbeit, „wald – forest“, die ab heute beim Dance-Festival in der Black Box im Gasteig präsentiert wird.

Die beiden Neonröhren kann man dimmen, vom Dunkel über das bereits ahnbare Licht bis zum völligen Aufstrahlen. Ziegler kreierte mit den beiden Leuchtkörpern pulsendes Licht, unterschiedliche Lichtfrequenzen und Lichtstärken. An ihnen probierte er aus, was nun als Lichtarchitektur von 16 schwebenden Lichtobjekten zum Aktionsfeld für die Tänzerin Christine Bürkle wie auch – als interaktive Installation – für das Publikum wird. „Der Tanz der Lichter und Tanz der Körper“, sagt Ziegler, „soll direkt das Auge anregen, ohne erst über Bilder zu wirken.“ Damit spricht er einen heiklen Punkt an. Denn oft gelten Medienkünstler, die mit Tänzern arbeiten, entweder als Fabrikateure ornamentalen Dekors oder als Zulieferer aufwändiger technischer tools, wenn sie nicht gar ihre Partner im hochgetunten Environment sinnlos umherhampeln lassen. Nicht so bei Ziegler: Spätestens mit seinen Produktionen „scanned“ und „turned“ bewies er, dass nicht ein Medium das andere lediglich begleitet. Hier spielten Ton, Körper und Bild zusammen, ergab sich ein furioser Dialog, in dem das mediale Bild die Zeiterfahrung neu bestimmte. Live-Bilder und die visuelle Aufzeichnung vergangener Aktionen konnten sich überlagern und erzeugten so eine neue Erfahrung von Zeitlichkeit.

Unangetastet blieb jedoch in diesen Performances das traditionelle Verhältnis von Bild und Darsteller, von Screen und der wie auch immer gearteten Handlung vor der Leinwand: „Die Bilder“, sagt Chris Ziegler, „sind repräsentativ, sie sprechen über etwas, aber sie stellen nichts konkret dar, wie es das Theater kann.“ Das sei das grundsätzliche Dilemma. „wald – forest“ ist nun der Versuch des Video- und Medienkünstlers, artist in residence am ZKM in Karlsruhe, direkt darstellerisch mit seinem Medium zu arbeiten. Zusammen mit Tänzerin Christine Bürkle, die er seit dem CD-Rom-Projekt „William Forsythe: Improvisation Technologies“ kennt, forscht Ziegler nun an der Idee, den „Bildschirm physisch erfahrbar zu machen“.

Die bewegliche Lichtarchitektur reagiert auf die Bewegungen der Tänzerin, verändert mit jedem noch so leichten Pendeln Raum und Wahrnehmung, beeinflusst Bürkles Aktionen. So gleicht keine Aufführung der anderen. Das Publikum kann auch selbst den Dialog mit dem Wald aus Leuchtröhren aufnehmen: Wer sich in diesem medialen Raum erleben will, kann die „Matrix aus Licht“ an zwei Nachmittagen ausprobieren. „Der Ort ist Teil der Handlung geworden“, so Chris Ziegler. Der dunkle Wald mit seinen leuchtenden, schwingenden „Bäumen“ wird mit allen Sinnen erfahrbar – als Schattenspiel, durch den Luftzug der schwingenden Röhren, durch direkte Manipulation.

(Aufführungen von „wald – forest“ heute und am 4. November, 19 Uhr; „Matrix aus Licht“ 3. und 5. November, 15 bis 20 Uhr; Black Box im Gasteig)

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