Sasha Waltz & Guests „Gezeiten“

Furcht und Schrecken in der Uraufführung an der Berliner Schaubühne

Berlin, 21/11/2005

In stürmischen Zeiten präsentiert Sasha Waltz (die ihren Kooperationsvertrag mit der Schaubühne zum Februar 2006 aufkündigen will) ihre nunmehr dreizehnte Uraufführung „Gezeiten“, doch mit dem gleichmäßigen Wechsel von Ebbe und Flut hat diese 2 ½ Stunden Performance nichts gemein. Die Welt bebt krisengeschüttelt. Medial aufbereitet flimmern täglich Erdbeben, Hurrikans, Kriege, Terroranschläge in jedes Wohnzimmer. Sasha Waltz quält die Frage, wie gehen Menschen mit Katastrophen und Bedrohungssituationen um. „Ich will die Not spürbarer machen, sie soll nicht so abstrakt bleiben, wie wir das immer über die Medien erleben.“

Ein ruinöser Raum mit drei Türen, abgeplatzter Wandfarbe, defekter Telefonleitung und zerborstenen Wasserrohren, Stühlen, Tischen, einem Bettgestell, Wasserflaschen und Desinfektionsmittel. In dieser Zwischenwelt aus Krankenstation und Begegnungsstätte (Bühne: Thomas Schenk), vor deren Türen Feuer prasselt und Schuttberge zusammenkrachen, stehen Menschen barfuss im bunten Outfit eng aneinander gedrückt und beginnen ganz langsam, mit leicht nach vorn gebeugten Schultern zu schwanken. Eine äußere Eruption zersplittert die Gruppe. Menschen torkeln, fallen, schreien. Ein Fremder wird gegen Widerstand desinfiziert, ein anderer Ankömmling bleibt sprachlos, eine Frau wird von Weinkrämpfen geschüttelt, ein Mann baut vier Backsteinkreuze, ein Mädchen hängt wie ein Klotz am Bein eines Mannes, Care-Pakete gehen von Hand zu Hand und werden auf einem Wandvorsatz gehortet.

Gemeinsam setzen Frauen und Männer rostige Rohre zusammen, aus denen Wasser spärlich in eine Tonne fließt. Erleichterung. Die Menschen lachen, tuscheln, ein Hauch Normalität mit Tischorgel. Als Feuer und Rauch den Innenraum erfassen, bekämpfen die Insassen den Brand. Noch funktioniert ein Feuerlöscher. Wasser tropft. Diesem düsteren einstündigen Bedrohungstableau folgt nach der Pause eine fremdartig langsam zelebrierte Bildfolge. Die gleiche Menschengruppe gleitet in tänzerischer Trance mit geschlossenen Augen in immer neue Körperskulpturen. Körper schieben sich in- unter- und umeinander, musikalisch grundiert von Tanzsätzen aus Bachs Cello-Suiten (live gespielt von James Bush), die sich behutsam mit den Tanzduetten und Trios in der Stille mischen.

Sasha Waltz gelingt eine beredte tänzerische Paraphrase auf die Sehnsucht, getragen zu werden, und auf die ewige Suche nach Nähe. Einer trage des anderen Last. Ein Interludium zum Thema der Einzelne und die Gruppe. Menschen, die sich aneinander lehnen, Menschenketten bilden, die sich nicht halten können und wie Dominosteine auseinanderbrechen. Am Schluss des zweiten Teils stehen alle sechszehn Akteure wieder als Gruppe mit leicht pendelnden Armen. Standuhren. Warten auf die Apokalypse. Ein quälend langer dritter Teil mündet in eine aus den Fugen geratene Welt, ausufernd absurd clowneske Einzelaktionen kulminieren in der totalen Zerstörung. Paranoide Menschen brechen die Dielen aus dem Boden, Steine fallen aus der Wand. Die Menschen verschwinden. Übrig bleiben nur drei Tote in Tücher gewickelt. Im verglimmenden Lichtschein erheben sie sich, schwanken langsam, über ihnen die Wasserleitungen wie Kanonenrohre.

Sasha Waltz entwirft mit ihrem überaus engagierten Ensemble eine collageartige Bilderflut pendelnd zwischen Realismus und Surrealität. Angst, Verzweiflung, Wahnsinn zelebriert in oft ungenauen, nur angerissenen szenischen Vorgängen. Entgegen ihrer Absicht, bleiben diese Menschen in Not unpersönlich, abstrakt. Ritualisierte Betroffenheit in kontrastarmen Szenen zum Thema Zerstörung. Neugestaltung bleibt ausgespart. Das Programmheft zitiert hingegen Heiner Müller „Die erste Gestalt der Hoffnung ist die Furcht, die erste Erscheinung des Neuen der Schrecken.“
 

Nächste Aufführungen: 21., 24.-27. November jeweils 20.00 Uhr
 

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