Mit dreiundzwanzig fürs Leben stigmatisiert

John Neumeier und die Genealogie seiner Mahler-Ballette

oe
Hamburg, 07/12/2005

Das Datum: Sonntag, der 7. November 1965. Auf dem Besetzungszettel der Premiere des Stuttgarter Balletts neben den „Danses concertantes“ von Kenneth MacMillan und der Uraufführung von John Crankos „Opus 1“ steht als Hauptwerk „Das Lied von der Erde“ von Gustav Mahler, Choreografie: Kenneth MacMillan. Im sechsten Satz, „Der Abschied“, fungiert unter den Corps-de-ballet-Tänzern John Neumeier, damals dreiundzwanzig, zwei Jahre zuvor zur Kompanie gestoßen. Es scheint seine erste Begegnung mit der Musik von Mahler gewesen zu sein – seine Taufe gewissermaßen.

Er beginnt schon früh für die Matineen der Noverre-Gesellschaft zu choreografieren – zu allen möglichen Musiken, doch ein Ballett zu Musik von Mahler ist nicht darunter. Der taucht erstmals 1970 in Frankfurt auf, wo Neumeier seit 1969 Ballettchef ist: als Schluss des dritten Teils der abendfüllenden Collage „Unsichtbare Grenzen“ – im „Rondo“ zu Mahlers Lied „Ich bin der Welt abhanden gekommen“. Doch die eigentliche Initialzündung zu seiner konzentrierten Auseinandersetzung mit dem Oeuvre von Mahler scheint für Neumeier dann 1974 sein Beitrag am 6. Juli zum Stuttgarter Memorial für den so tragisch früh verstorbenen John Cranko ausgelöst zu haben – seine Choreografie zum 4. Satz der 3. Sinfonie, „Nacht“, als Pas de trois für Marcia Haydée, Richard Cragun und Egon Madsen – ein Trio dreier Einsamkeiten, die am Schluss eine neue, zaghafte, unoptimistische Gemeinsamkeit miteinander versuchen.

Dies war übrigens eine wegen zahlreicher beleuchtungstechnischer Pannen gründlich verunglückte Uraufführung, die Neumeier noch am späten Abend veranlasste, mir ein paar Zeilen aus dem Hotel zukommen zu lassen, in denen er mich darüber informieren wollte, „dass das Ballett ‚Nacht‘ heute Abend nicht stattgefunden hat“). Ihr folgte am 14. Juni 1975 – seit der Spielzeit 1973/74 war Neumeier Ballettdirektor der Hamburgischen Staatsoper – „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“, die seither zu den Schlüsselwerken des Hamburger Repertoires zählt, immer wieder neu aufgenommen und inzwischen in allen Teilen der Welt getanzt wurde.

Seither ist die Kette seiner Ballette zu Musik von Mahler nicht mehr abgerissen, wenn auch unterschiedlich lange Zeiträume zwischen den einzelnen Premieren lagen. 1975 bis 2005 – das sind dreißig Jahre. Mahler selbst komponierte seine neun Sinfonien und die zehnte als Fragment überlieferte in den Jahren 1885 bis zu seinem Tod 1911. Nach der Dritten schuf Neumeier die Vierte 1977 für das Royal Ballet in London, die Erste 1980 und die Zehnte 1984 für das Ballet du XXe Siècle in Brüssel, die Sechste im gleichen Jahr für das Hamburg Ballett und die Fünfte, ebenfalls für die eigene Kompanie, 1989 zur Einweihung des neuen Hamburger Ballettzentrums. Es folgten noch die „Zwischenräume“ 1994 zur Neunten – und damit schien der Zyklus seiner Mahler-Ballette abgeschlossen.

Es gab damals wohl auch Andeutungen, dass er mit seiner Auseinandersetzung mit dem Oeuvre Mahlers am Ende angelangt war. Umso mehr erstaunte die Ankündigung – nach zehnjähriger Zäsur –, dass er sich doch noch einmal auf das Abenteuer Mahler einlassen wollte, nämlich auf seine jetzt zur Uraufführung gelangte „Siebte Sinfonie“ – und sie erstaunte umso mehr, da es sich bei diesem Werk aus den Jahren 1903/05 (uraufgeführt 1907) um die sperrigste, disparateste, an Irritationen reichste seiner Sinfonien handelt, die allen ihren Interpreten, sowohl den Dirigenten wie den musikwissenschaftlichen Kommentaren bis auf den heutigen Tag ein Rätsel geblieben ist.

Vielleicht war gerade dies aber der Grund für Neumeiers Versuch einer choreografischen Annäherung: dass sie mit ihren vielen Zitaten und Verzweigungen zu einer Rückschau auf die eigene Arbeit reizte. In der Tat wimmelt es ja in den fünf Sätzen nur so von Verweisen auf frühere Ballette aus diesen dreißig Jahren – ganz im Sinne der musikalischen Collage, die die Identität dieser „Nachtwanderung“ stiftet. Wobei ich mir persönlich allerdings gewünscht hätte, dass er die zahllosen musikalischen Abschweifungen choreografisch einer vereinheitlichenden Dramaturgie unterworfen hätte – die drei Hauptfiguren Joelle Boulogne, Lloyd Riggins und Alexandre Riabko sind dafür nicht ausreichend. Dass er also für klarere und eindeutigere Strukturen gesorgt hätte, statt die kontrastierenden musikalischen Episoden lediglich tänzerisch zu illustrieren. Gewünscht hätte ich mir, dass ich durch die Choreografie zu einem besseren Verständnis der Musik geführt worden wäre und so durch die Augen zum genaueren Hören verführt worden wäre. Aber damit hoffte ich auf etwas, was mir kein Bernstein und kein Rattle, kein Adorno und auch Henry Le Grange nicht liefern konnte: auf eine bewusstseinserhellende Erklärung der musikalischen Rätsel durch die Choreografie.

Immerhin: es hat in der Ballettgeschichte bisher noch keinen anderen Versuch einer so umfassenden und konzentrierten Auseinandersetzung mit dem Werk eines Komponisten gegeben wie sie der Corpus der Neumeierschen Mahler-Ballette darstellt. Dass sie ausgerechnet in Hamburg stattfand, ehrt nicht zuletzt die Stadt, in der Mahler bekanntlich von 1891 bis 1897 als erster Kapellmeister wirkte (wo eine seiner Ruhmestaten die deutsche Erstaufführung von Tschaikowskys „Eugen Onegin“ war). Mahler hat bekanntlich vom Ballett seiner Zeit nicht viel gehalten. Kein Wunder, wenn man sich die Liste der Titel ansieht, die damals in Hamburg getanzt wurden: „Am Wörther See“ (1891), „Nürnberger Volksfest“ (1893), „Die Wichtelmännchen“ (1894), „Die gold‘ne Märchenwelt“ (1895), „Phantasien im Bremer Ratskeller“ (1896) und „Der Blumen Rache“ (1897). Wie würde er wohl auf Neumeiers choreografische Interpretation seiner Ballette reagiert haben? Ich stelle mir vor, dass er sie als Realisierung seiner kühnsten Theaterträume begrüßt hätte. Und dafür bin ich Neumeier zu tiefstem Dank verpflichtet – gerade weil für mich die Musik und der Tanz im Idealfall als gleichberechtigte Partner miteinander kooperieren. Wie nicht in allen, aber doch in vielen von John Neumeiers Mahler-Balletten, die durchweg von Traumtänzern (Tag- und Nachtträumern) handeln.

Und noch eine Nachbemerkung: John Neumeier hätte seine „Nachtwanderung“ unbedingt Sybil Shearer widmen sollen – selbst wenn der Name dem hiesigen Publikum nichts sagt. Shearer war eine der großen Einzelgängerinnen des Modern Dance in Amerika, völlig unabhängig von Trendsetterinnen wie Martha Graham oder Doris Humphrey, die in der Nähe von Chicago lebte, wo sie zuletzt in ihrem eigenen Theater in Winnetka auftrat. Sie war eine der Persönlichkeiten, die auf Neumeier einen prägenden Einfluss ausgeübt haben, und er hat in ihrer Kompanie erste Erfahrungen als Tänzer gesammelt. Sie gehörte zu den größten Bewunderern seiner Arbeit und hat immer wieder in der amerikanischen Ballet Review darüber berichtet. Im November ist sie neunzigjährig in Northbrook gestorben. Ihr hätte wahrlich ein Memorial in Form dieses großen Neumeier-Mahler-Epitaphs gebührt!

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern