„Lieder der Nacht“

Zwei Ballette von John Neumeier

Hamburg, 06/12/2005

Als choreographisches Chamäleon präsentierte sich John Neumeier bei der Premiere „Lieder der Nacht“: Einen Langeweile-Schock verpasste er dem erwartungsfrohen Publikum als Aperitif mit dem ersten Stück „Nocturnes“: coole Partysituationen, routiniert gestellt auf Kompositionen Frédéric Chopins. Was Schlimmes befürchten ließ für das Hauptwerk des Abends, die 7.Sinfonie e-moll Gustav Mahlers - mit der „Nachtwanderung“ setzte er jedoch einen grandiosen Kontrapunkt. Neumeier hütet sich vor plakativer Eindeutigkeit, zeigt latente, nicht reale Bedrohung hinter dem vermeintlichen Idyll. Katastrophisches bleibt mehr Ahnung als Ausführung. In der Flut von Bildern, nicht erfassbar beim ersten Anschauen, scheinen die Impulse der Musik auf, nicht deren „vertanzter“ Abklatsch. Die Zerrissenheit Mahlers, trotz der humorigen Züge in der 7.Sinfonie, hält Neumeier kongenial in der Balance des Angedeuteten.

Zentrale Figur ist die Frau mit weißem Tuch (Joelle Boulogne verkörpert sie mit gelassener Souveränität), die wie ein Schema durch die fünf Sätze zieht, im vierten gewissermaßen verwandelt hervortritt, den letzten Schritt im fünften hat, zusammen mit der Figur des Poeten, Lesers, Musensohns. Ihm gibt Lloyd Riggins die weltverlorene Aura des Einsamen, Suchenden. Beiden Gestalten verleiht Neumeier durch ein sehr subtil getöntes Bewegungsmaterial aus kleinen Schritten, Wendungen und Gesten eine brennende Intensität, mit der das Paar, allein auf der Bühne, mühelos die Nachtmusik II (4.Satz) „ausfüllt“. Hier liegt der Höhepunkt der Choreographie.

Immer wieder nimmt Neumeier Gegensätze auf: Zu Anfang liegt Boulogne, bedeckt mit dem weißen Tuch, auf einer Bank, bewacht von einem Mann (Alexandre Riabko, physisch sehr präsent mit blitzsauberer Technik), als seien es Tristan und Isolde (oder Alma und Gustav Mahler). Dahinter tauchen schwarze Männer als dunkle Drohung wie eine militärische Gruppe auf, erobern die Bühne mit ihrem angehockten Drehsprung. Dann erscheinen einige Männlein und Weiblein, wie aus dem Bett entstiegen, steigern sich bis zum Streit. Neumeier bewegt die Gruppen bis zum 50-köpfigen Ensemble im Finale souverän im Raum, bedient sich eines weit über das klassische Repertoire hinaus erweiterten Bewegungsmaterials mit sehr freier Armführung. Der stilisierte Marschtritt der „Soldaten“ erinnert von Ferne an den des Tod in Jooss‘ „Grüner Tisch“. Gekippt auf die Seite, läuft der Schritt ins Leere, kommt nicht von der Stelle.

Ein doppelter Lichtkreis erscheint immer wieder, hoch eingeklinkt in eins der beweglichen, in der Farbe häufig wechselnden Segmente, durch deren Verschiebungen der Horizontalen und Vertikalen über den ganzen Bühnenraum sich die Szenerie verwandelt (Bühnenbild und Kostüme: John Neumeier), jeweils gehalten in streng geometrischen Formen. Kleine Zeichen verteilt Neumeier, wie in der Nachtmusik I, in der eine Frauengruppe immer wieder von neuem Anlauf zur piqué arabesque nimmt. Alles bewegt sich auf dünnem Eis. Während vorn ein Idyll mit wunderschön fließendem Pas de deux erfreut, droht hinten wieder Gewalt durch die Masse von dunklen Gestalten. Unterschwellige Gewalt entlädt sich im heftigen Zusammenprall von Paaren - ohne weitere Zuspitzung zu Mord oder Totschlag. Die liegenden Leiber sind nur scheintot, erheben sich bald wieder. Im Scherzo erscheint ein Mann mit Pistole in der Hand, schreitet über die Bühne, verschwindet - nichts passiert wie bei den Auftritten weiterer „Pistoleros“. Eine Gesellschaft schlägt über die Stränge nach dem Takt des grob dreinfahrenden Satzes.

Da hätte Dirigent Klauspeter Seibel die Konturen mehr schärfen können zu grimmigem Geschehen. Er bevorzugte eine kontrollierte Interpretation, mehr der Melancholie als der überbordenden Leidenschaft zugetan. Das Orchester folgte ihm aufmerksam: eine feine Leistung wie die der Pianistin Lauma Skride in den „Nocturnes“, die sie in klarer Sanftheit nachdrücklich interpretierte. Nach der Nachtmusik II, der Spiegel der Seelenlandschaften der Frau und des Poeten, braust lärmend das Rondo-Finale auf. Kunterbunt wie die Musikstruktur in ihrer wilden Mischung aus Marsch, Menuett, instrumentalem Gesang schickt Neumeier eine Gruppe nach der anderen ins motorisch aufgedrehte Getümmel, aus dem unversehens stumme Schreie erwachsen.

Da kreuzt ein dynamisches Männerquartett mit explosiven Sprungfolgen über die Bühne, deuten Barockfiguren mit Perücken, gar zierlich das Tässchen in der Hand, in immer neuen Tönungen der Kostüme höfischen Tanz an zu menuettartigen Klängen. Die Frau, nun in grauem damenhaftem Kostüm, bahnt sich einen Weg durch die Menge, die sich einmal zum Block verdichtet, der sich gleich wieder auflöst - nichts bleibt, alles ist in dauernder Verwandlung. Schließlich schreiten Frau und Poet im rechten Winkel aufeinander zu; bevor sie sich erreichen, fällt der Vorhang. Treffen sie sich oder gehen sie aneinander vorbei? Die Frage bleibt offen. Offen wie der ganze Abend der Anstöße ohne Gewissheit.

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