„Was mir mein Körper erzählt...“

„Lieder der Nacht“ - John Neumeier choreographiert acht Nocturnes von Chopin und Mahlers 7. Sinfonie

Hamburg, 06/12/2005

Eigentlich, sagt John Neumeier, hat er die 7. Sinfonie von Gustav Mahler gar nicht choreographieren wollen. Als er vor elf Jahren dessen 9. Sinfonie einstudierte („Zwischenräume“), war er sicher: „Das war‘s.“ Vor zwei Jahren dann hörte er die siebte zur Vorbereitung von „Tod in Venedig“. Und da sei dann doch in ihm die Idee gewachsen, sich dieser Sinfonie anzunehmen, auch, weil der Titel des zweiten und vierten Satzes - „Nachtmusik I und II“ - seine Neugier geweckt habe. Denn die Nacht, so sagt Neumeier in einem Interview mit dem „Hamburger Abendblatt“, bedeute „einen Schnittpunkt zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, nicht unbedingt Dunkelheit, eine Zeit, in der mir Menschen, die nicht mehr leben, ganz nahe sind, und in der Ängste und Hoffnungen, was die Zukunft betrifft, ganz real werden. Nacht bedeutet für mich die Abwesenheit von wirklichen Aktivitäten und die Intensivierung von innerlichen Aktivitäten.“

Und so hat er sich intensiv tänzerisch mit der Nacht beschäftigt. „Lieder der Nacht“ heißt der Abend, bei dem Neumeier dem „Hauptgang“ der siebten Mahlersinfonie („Nachtwanderung“) ein „Hors d‘oeuvre“ mit acht Chopin-Nocturnes vorangestellt hat. Diese Nocturnes sind höchst delikat komponierte Paar-Begegnungen im Café (mit und ohne Kaffeetassen). Das ewige Thema der zwischenmenschlichen Beziehungen – junge, alte, frische, reife, übermütige, elegische, nachdenkliche, kraftvolle. Zu zweit, zu dritt, zu sechst, zu zehnt. Immer spannend. Und von den Solisten der Hamburger Kompanie exzellent getanzt.

„Es ist besser, wenn Sie beim Zuschauen das Denken ausschalten - das blockiert Sie nur“, mahnte Neumeier anlässlich einer „Ballett-Werkstatt“ in Vorbereitung dieser Premiere sein Publikum. „Denken Sie nicht darüber nach, ob und was ich mir bei diesem Stück gedacht habe. Wichtig ist, was Sie selbst empfinden, wenn Sie die Musik hören und das Ballett sehen.“ Er selbst lasse beim Choreographieren auch den Kopf weitgehend außen vor: „Ich weiß anfangs nur, dass ich zu dieser Musik choreographieren könnte, was und wie, das ist ein Geheimnis, das mir mein Körper erst erzählt, wenn ich an dem Stück arbeite.“ Und so ist es auch das einzig Richtige, sich einfach auf diese Nachtwanderung zu begeben und dabei alle Sinne zu öffnen.

Der erste Satz schließt unmittelbar an die Poesie der Nocturnes an - träumerisch, mit vielen plötzlichen Wechseln, wie auch die Musik immer wieder überrascht und unterschiedlichste Assoziationen weckt. Den zweiten Satz wollte Neumeier ursprünglich nur für Männer choreographieren. Dann aber habe die Musik ihm nahegelegt: „Das sind Erinnerungen - von Mädchen und Frauen an ihre Männer, die in den Krieg gezogen sind.“ Eine Vergangenheit, die sich einmischt in die Gegenwart. Gestriges, das die Erlebniswelt von heute beeinflusst und durcheinanderbringt. Und so komponiert Neumeier hier zu dem von ihm selbst durchgängig angenehm schlicht gehaltenen Bühnenbild einen nachdenklich-heiter-traurigen Satz, der vor allem durch seine ständig wechselnden Bewegungsbilder fasziniert.

Im Scherzo des dritten Satzes dann wird es mysteriös, temporeich, unterschwellig gewalttätig und faszinierend mondän - eine dekadente Form von Gesellschaftstanz, eine Mischung aus Revue und Ball, aus Schönheit und Oberflächlichkeit mit mühsam zurückgehaltener Aggression. Die „Nachtmusik II“ des vierten Satzes stilisiert Neumeier zu einer skurrilen Begegnung zwischen Mann und Frau, wobei er seine durch das ganze Stück führende Nachtwandlerin - wunderbar rätselhaft: Joelle Boulogne - in ein bieder-elegantes Kostüm mit Hut steckt, passend zum spießig-altertümlichen Outfit seines männlichen Protagonisten - fulminant: Lloyd Riggins. Zwei seltsame Wanderer zwischen den Welten, rührend und verstörend zugleich. Auf dieser Grundlage explodiert das Rondo-Finale wie ein buntes Feuerwerk. Neumeier vereint hier seine gesamte Kompanie auf der Bühne - das wuselt und huscht, zappelt und stakst, flitzt und springt, schreitet und schwebt, farbig, heiter, munter, lebensfroh.

Doch am Schluss wird die vielfältige, zu einem Pulk zusammenballte Masse von rätselhafter Hand hinweggefegt. Zurück bleiben Mann und Frau - einander begegnend. Es ließe sich viel hineingeheimnissen in dieses Stück. Wer ist die Nachtwandlerin, wer der skurrile Mann im vierten Satz? Es ist besser, man lässt es. Denn obwohl das Rondo noch zu hektisch gerät und Neumeier hier im Lauf der Zeit vermutlich noch ein wenig ausputzen und manches stärker strukturieren wird, obwohl vieles ausgesprochen rätselhaft daherkommt - mit jedem Zuschauen und Zuhören lässt sich diesem Stück eine andere, neue Dimension abgewinnen. Und nicht zuletzt darin steckt immer wieder eine besondere Qualität von Neumeiers Choreographien: Sie sind so vielschichtig, so vielfältig, dass man sie kaum oft genug anschauen kann - sie eröffnen jedesmal neue Perspektiven. Die „Lieder der Nacht“ haben das ein weiteres Mal unter Beweis gestellt.

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