Im Schnittpunkt von Vergangenheit und utopischer Zukunft

Gustav Mahler an der Limmat

oe
Zürich, 13/05/2005

Die dritte Vorstellung von Heinz Spoerlis „allem nah, allem fern“ zu Gustav Mahlers Fünfter Sinfonie. Am Freitag (ausgerechnet einem 13.) vor Pfingsten und noch dazu bei reisestimulierendstem Sommerwetter! Wer geht da schon ins Ballett? Die Zürcher jedenfalls taten es zu Hauf! Ein volles Haus. Am Schluss großer Publikumsjubel für alle Beteiligten – auch für das in den Bühnenhintergrund verbannte Orchester und seinen Dirigenten Vladimir Fedoseyev.

Noch nie ist mir Mahlers Fünfte so kurz erschienen. Dabei ist man froh, dass Mahler nicht auch noch einen sechsten Satz komponiert hat. Die musikalische und tänzerische Fülle ist so überwältigend – mehr wäre einfach nicht zu verkraften gewesen! In der fabelhaften musikalischen Analyse der Sinfonie im Programmheft wird die Fünfte als ein „Schnittpunkt in Mahlers Schaffen“ bezeichnet, „die Selbstvergewisserung der Tradition in einem Moment, in dem sie bereits auf das Äußerste fragwürdig geworden war – und zugleich, in dieser Rückkehr in die Geschichte, der Versuch, das sinfonische Komponieren nochmals zu radikalisieren“.

Exakt! Gilt genauso für Spoerlis Choreografie als Selbstvergewisserung des Erbes und dem Ausloten künftiger Möglichkeiten – im Augenblick der allgemeinen Ratlosigkeit und Verunsicherung. Wie fern-nahe steht uns das Ballett heute? Wie nahe-fern zeichnet sich seine Zukunft ab? Spoerlis Ballett hinterfragt das gegenwärtige Selbstverständnis des Balletts und kämpft sich in dieser Auseinandersetzung mit Mahler vom lastend-trauernden cis-Moll des Beginns zum – wenn auch utopischen – D-Dur des Finales durch. Und sie tut es in einer luziden Helligkeit und Transparenz ihrer Strukturen, mit ständigen Verweisen auf das Gewesene (auch das der eigenen Spoerlischen Vergangenheit) und den Vorahnungen der Hoffnung auf eine alle Zweifel beseitigenden Zukunft, die Tanz und nichts als Tanz ist.

Erst bei mehrmaligem Sehen geht einem auf, mittels welcher Strukturelemente Spoerli die einzelnen Sätze und Abteilungen miteinander verbindet. Wie zum Beispiel die zunächst verblüffenden Kopfüber-Versenkungen der drei Damen am Schluss des Adagiettos durch die drei Herren schon vielfach vorweggenommen sind (die auch später wiederkehren) in den Kopfüber-Transportaktionen, in denen die Männer die Damen über die Bühne tragen. Als Verklammerungen der Sätze fungieren auch die Gruppenbildungen. Vor allem natürlich die drei so markant maskulinen Männer, die das Stück eröffnen: Dirk Segers, Tigran Mikayelyan und Davit Karapetyan. Dann die beiden Pas-de deux-Paare Seh Yun Kim / Amilcar Moret Gonzalez und Kusha Alexi / Jozef Varga. Dann wieder die drei Duos, die später auch in gemischter Besetzung auftreten (Yen Han und Vahe Martirosyan, Ana Carolina Quaresma und Filipe Portugal, Diana Miqueo und Sergiy Kirichenko). Und besonders wuchtig die geschlossenen Zehner-Reihen der Männer und der Frauen, die wie eine Dampfwalze die Bühne überqueren.

Und wie brandet das über in den Zuschauerraum: die Attacke der Tänzer, ihre kollektive Wucht, aber auch ihre Risikobereitschaft, denn verlangt werden jede Menge gefährlicher Wurf- und Fangaktionen, Bodenstürze und Schlitterfiguren, waghalsige Balancentransporte und Timings, die auf den Bruchteil einer Sekunde berechnet sind. Die Zürcher tanzen das mit einer Bravour und einer Teufel-komm-raus-Tollkühnheit, als gälte es, ein für alle Mal das Klischee von der eidgenössischen Selbstzufriedenheit und Selbstgenügsamkeit hinwegzufegen: wahre Tanzteufel von der Limmat! Ein Meisterwerk (noch siebenmal in der laufenden Spielzeit – dann erst wieder 2006/07) in einer meisterhaften Aufführung. Glückliches Zürich!

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