Neugier und Leidenschaft

Zum Start der der euro-scene Leipzig ein Gespräch mit Festivaldirektorin Ann-Elisabeth Wolff

Leipzig, 29/10/2005

Die euro-scene Leipzig, das einzige Festival für zeitgenössisches europäisches Theater und modernen Tanz in den neuen Bundesländern, startet am 1. November ihre 15. Jubiläums-Ausgabe. 

Ann-Elisabeth Wolff: 1953 geboren in Halle/Saale, Vater Musikwissenschaftler, Mutter Opernsängerin, Studium der Musikwissenschaft an der Karl-Marx-Universät Leipzig, Klavier- und Gesangsunterricht, Regieassistenz bei Joachim Herz an der Oper Leipzig, von 1975 bis 1990 Lektorin für Bühnenwerke und Vokalmusik im Musikverlag Peters Leipzig, 1991 Mitbegründerin und Codirektorin und seit 1993 Festivaldirektorin der euro-scene Leipzig. Arbeitsmaxime: Niemals „morgen“, stets „heute“. 
 

Frau Wolff, Sie haben mit Ihrem kleinen Mitarbeiterteam dieses ehrgeizige Festivalprojekt der 90er Jahre zu einem wichtigen Bestandteil der gesamtdeutschen Kulturszene gemacht. Nach welchen Kriterien laden Sie Künstler nach Leipzig ein und wie viel Gestaltungsspielraum lassen Sie sich, um im internationalen Festivalkarussell, das Sie von Avignon bis Bukarest bestens kennen, eigene Akzente zu setzen?

Das Festival hatte von Anfang an eine klare Konzeption, die sich bei allen neuen Schattierungen erhalten und bewährt hat. Wir stellen innovatives europäisches Theater und Tanzproduktionen aus West-, Mittel- und Osteuropa in einem ausgewogenen Verhältnis vor. Tanz und Theater in spartenübergreifenden Produktionen, die gesellschaftliche Bezüge zur aktuellen Gegenwart haben. Wir suchen nach Regisseuren und Choreografen mit starken künstlerischen Handschriften und Absichten. Das Programm ist eine Mischung aus berühmten Kompanien (3-4 Topproduktionen) und jungen, noch völlig unbekannten Gruppen. Entdeckungen fördern den Dialog. Seit Jahren ist Osteuropa ein zentraler Festivalschwerpunkt, nicht erst seit der Erweiterung der EU. Die Kenntnis von Kunstenfestivaldesarts, Brüssel, Spiel.Art-Festival, München und Biennale de la Danse, Lyon ist ein Muss ebenso wie die großartigen Festivals in Nitra/Slowakei und im Wrocław. Durch diese internationalen Höhepunkte wie durch die freien Spielstätten in Deutschland (Hebbel-am-Ufer in Berlin oder Kampnagel in Hamburg) wird der Austausch mit Kollegen europaweit geführt. Als ich in Gdańsk war, erfuhr ich so zufällig vom Dance Theatre Incluse im nahegelegenen Kaliningrad, das wir jetzt erstmals mit dem gerade uraufgeführten Tanzstück „Deportation“ (zum 750. Jubiläum der Stadt Königsberg) eingeladen haben. Wir machen in und für Leipzig mit seinen vielseitigen Spielstätten ein wichtiges europäisches Festival. Der Mix aus berühmten und unbekannten Gruppen ist für uns wie für die beteiligten Künstler wichtig.

2004 haben Sie Theater- und Tanzaufführungen aus allen zehn neuen Beitrittsländern zur Europäischen Union eingeladen. Nächste Woche knüpfen Gastspiele an diese „Wahlverwandtschaft“ mit Osteuropa an. Was bewegt unsere Nachbarn auf der Theater- und Tanzbühne?

Es ist nach wie vor zu spüren, dass die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Fragen stärker ist. Obwohl die Beschäftigung mit dem Hier und Heute, die sinnliche Vermittlung von Denkanstößen generell nicht nur auf Produktionen aus Osteuropa zutrifft. Osteuropäische Kompanien wollen sich zunehmend im „Westen“ präsentieren, ohne das eigene Gesicht zu verlieren. Speziell die Arbeit aus Kaliningrad hat einen starken politischen Hintergrund. Aber auch die dänische Tänzerin Kitt Johnson zeigt eine eigenwillige Umsetzung ihrer Idee von der Evolutionsgeschichte des Menschen bar jeglicher Selbstausstellung. Tanztheater ohne inhaltlichen Anspruch würden wir nicht bzw. nur im Ausnahmefall nach Leipzig einladen. Im 15. Jahr haben wir besonders nach Produktionen geschaut, die aufgrund ihrer hohen Qualität über Jahre Bestand haben und beim Publikum Resonanz finden, so das poetische Kinderstück „Buchettino“ der Sociètas Raffaello Sanzio aus Cesena/Italien oder Nigel Charnock mit seinem umwerfenden Tanz-Musik-Theaterstück „fever“. Wir freuen uns gleichermaßen auf alte „Bekannte“ wie das Ballet Preljocaj/Aix-en Provence, Jo Fabian Departement aus Berlin oder La Strada aus Sofia wie auf völlig neue „Wahlverwandte“, beispielsweise Emio Greco aus Amsterdam.

„Das beste deutsche Tanzsolo“ nach einer Idee des belgischen Choreografen Alain Platel wird 2005 zum 7. Mal gekürt. Der dreitägige Wettbewerb ist ein Zuschauermagnet. Sie haben die Vorauswahl kritisch begleitet. Wen und was können Besucher und Jury diesmal auf dem 7m runden Tisch im Foyer des Schauspielhauses erwarten?

Das ist ein Festival im Festival, offen für Profis und Nichtprofis. Die Bewerberzahlen steigen jährlich von anfangs um die 80 auf derzeit 148! (Platel ist Mitglied der Jury, der ZDF-theaterkanal zeichnet die Preisträger auf und Sponsoren stiften Geldpreise.) Rund 20 Soli von je fünf Minuten kommen in die Endrunde. Was mich tief beeindruckt: Die Akteure stecken all´ ihre Menschlichkeit in diese fünf Minuten. Diese große inhaltliche Konzentration auf das Wesentliche, die Schönheit und Ernsthaftigkeit, sich mit Themen unserer Zeit, über die Konsumwelt hinaus, Gedanken zu machen, ist für mich eine hoffnungsvolle Ermutigung.

Die Auslastung der Vorstellungen lag bisher zwischen 83 und 96 %. Wie bewerten Sie nach fünfzehn Jahren diese Zuschauerresonanz?

Unser Publikum hat einen kritischen Geist. Wir waren schon durch die Messen eine Handels- und Bürgerstadt (im Gegensatz zu Dresden), die jene Eigenart, über den Tellerrand hinaus schauen zu wollen, beförderten. Hier gab es zu DDR-Zeiten die Leipziger Theaterwerkstatt, die vom Theaterverband organisiert wurde und neue osteuropäische Dramatik präsentierte. Das Schauspielhaus war immer rappelvoll. Nach der Auflösung des Theaterverbandes und nach der letzten Schauspielwerkstatt im Frühling 1990 hatte Matthias Renner Überlegungen für ein europäisches spartenübergreifendes Theaterfestival. Dresden lehnte ab; in Leipzig gab es ein spürbares Interesse und die Entscheidung für die 1. euro-scene Leipzig 1991.
Wir haben ein junges intellektuelles Publikum, aber auch Menschen, die uns über die Jahre begleiten. Es gibt hier in Leipzig kein anderes Festival ähnlicher Art. Das ist der grundlegende Unterschied zu anderen Metropolen. Die euro-scene ist ein Höhepunkt für alle Theaterbegeisterten mit zunehmend überregionaler Ausstrahlung. Bei aller künstlerischen Vielfalt haben wir in Leipzig eine in dieser Hinsicht überschaubare Kulturlandschaft. Dieses Manko schafft uns andererseits ein Podium für alle Ausgehungerten, die neugierig sind.

Wolfgang Tiefensee, (Noch)-Oberbürgermeister und Schirmherr des Festivals spricht davon, „dass Leipzig mit der euro-scene über die Grenzen hinweg als Erfinder und Bewahrer des Diskurses über moderne experimentelle Tanz- und Theaterkunst wahrgenommen wird und im Gespräch bleibt“. Für 2006 sind die 100.000 Euro Zuschuss der Bundeskulturstiftung sehr unsicher. Welche Gefahren sehen Sie bei Kürzungen im Kulturetat?

100.000 Euro Zuwendung vom Bund sind bei einem Gesamtetat von 630.000 Euro eine große Summe. Da die Kulturstiftung, die uns seit zwei Jahren fördert, ausschließlich Projektförderung betreibt, muss immer wieder neu beantragt werden ohne Anspruch auf Dauerhaftigkeit. Der Antrag läuft immer nur jährlich. Mit dem Regierungswechsel muss man beim Bund generell wieder neu beginnen. Stadt und Freistaat Sachsen unterstützen uns, und das BMW-Werk Leipzig hat mit uns einen großzügigen Sponsorenvertrag abgeschlossen, der bis 2006 reicht. Die Finanzierung ist jedes Jahr eine immens schwierige Aufgabe, ein Puzzlespiel.

Was ist für Sie Glück?

Verlöschen des Lichts vor jeder Aufführung und ein neugieriges Publikum.

In diesem Sinne Toi, Toi, Toi!
 

Link: www.euro-scene.de

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