Eine Frau, die voller Welt ist

Cornelia Stilling-Andreoli und Gundel Kilian: „Marcia Haydée - Divine“

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Stuttgart, 10/03/2005

Nein, göttlich, wie es der Titel des Buches „Marcia Haydée – Divine“ in Anlehnung an eine der für sie von Maurice Béjart geschaffenen Rollen verheißt, ist sie ganz und gar nicht. Sondern sehr, sehr menschlich – wie sie es selbst in dem großen, weit ausholenden und aufschlussreichen Interview bekräftigt, das die Autorin Cornelia Stilling-Andreoli mit ihr geführt hat: „Ich bin ein ganz normaler Mensch, keine Ikone. Und das will ich auch weiterhin bleiben.“ (Cornelia Stilling-Andreoli und Gundel Kilian: „Marcia Haydeé – Divine“, Henschel-Verlag, Berlin 2005, 206 Seiten, zahlr. Abbildungen, 24,90 Euro). Nein, Marcia Haydée ist keine andere Greta Garbo! Das wäre ihr viel zu wenig. Denn sie ist die Frau, in der die Welt ist – mit Dürer könnte sie von sich sagen, dass sie „inwendig voller Figur“ sei.

Ihr Rollenspektrum ist gewaltig – und es dürfte im Laufe der Ballettgeschichte wenige Ballerinen gegeben haben, die so gegensätzliche Frauencharaktere gestaltet haben – von Antigone, Medea und Jokaste über Shakespeares Julia und Katharina, Puschkins Tatjana, Dumas‘ Kameliendame, Merimées Carmen und Strindbergs Fräulein Julie, all die Prinzessinnen und Spektralerscheinungen des klassisch-romantischen Repertoires bis zu Tennessee Williams‘ Blanche Du Bois und Béjarts Mutter Teresa. Hätte Hofmannsthal sie gesehen, er hätte wohl als Begleitstück zu seinem „Jedermann“ eine „Jedefrau“ geschrieben! Sie alle hat Cornelia Stilling-Andreoli gründlich recherchiert und mit ihrem als Juristin geschulten Denkvermögen psychoanalysiert und in eine wunderbar klare und schnörkellose Sprache gesetzt, akkompaniert von einer überwältigenden Fülle von Fotos, Porträts, Theateraufnahmen und Schnappschüssen, die sich zu einem Frauenbild von unwiderstehlicher Faszination fügen.

Auf der Spur des charismatischen Geheimnisses Marcia Haydée hat sie sich ihr aus den verschiedensten Perspektiven genähert: Lebensstationen, Die Ballerina und Tanzschauspielerin, Die Ballettdirektorin und Die Choreografin. Dass sie es letzten Endes nicht ergründen kann, liegt in der Natur der Sache. Doch kommt sie ihm so nahe wie nur möglich. Inklusive der Männer, die sie geformt und zur Weltklasseballerina gemacht haben: John Cranko und Maurice Béjart als schöpferische Choreografen (neben vielen anderen), Richard Cragun, Jorge Donn, Jean-Christophe Blavier und Günter Schöll als ihre Partner auf der Bühne und im Leben.

Es ist ein Buch der Empathie und Liebe geworden, geschrieben in hell jubelndem Es-Dur. Manchmal hätte ihm vielleicht ein Schuss Angustura gutgetan, denn auf der Achterbahn von Haydées Leben hat es unvermeidlich auch ein paar Abstürze gegeben – und neben der Divina steckt eben auch ein Zug diabolischer Mephistophela in ihr. Jedenfalls ist es ein schönes Buch geworden. Ich könnte mir vorstellen, wie ihre eminenten Kolleginnen, heißen sie nun Karsavina, Spessivtseva, Ulanowa, Dudinskaja, Markova, oder Fonteyn, in ihren Gräbern stoßseufzen: Ach gäbe es ein so einfühlsames Buch doch auch über mich!

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