Ein Schmäh aus Wien

Zum Verriss von Cornelia Stilling-Andreoli und Gundel Kilians „Marcia Haydée - Divine“

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Stuttgart, 09/03/2005

Na endlich mal etwas, worüber ich mich richtig aufgeregt habe! Es handelt sich um das Buch „Marcia Haydée – Divine“ von Cornelia Stilling-Andreoli und Gundel Kilian, erschienen im Henschel Verlag, Berlin, 216 Seiten, 60 Abbildungen, ISBN 3-89487-504-6, 24,90 Euro. Nein, nicht über das Buch, wohl aber über die Besprechung aus dem Wiener „Standard“. Die scheint mir mit ihrem Titel „Betonierte Ballerina – Eine stolpernde Jubelbiografie über die 1937 in Rio geborene Startänzerin Marcia Haydée“ geradezu ein Musterbeispiel für Bosheit und Verständnislosigkeit!

Auch ich habe vor, in den nächsten Tagen im koeglerjournal über das Buch zu schreiben – allerdings unter einem anderen Titel: „Eine Ausnahmebiografie über eine Ausnahmetänzerin“. Denn eine Biografie dieser Qualität über eine andere der großen Ballerinen ist mir nicht bekannt. Ich könnte mir vorstellen, dass Alonso, Ulanowa, Plissetzkaja, Dudinskaja, Markova, Fonteyn, Chauviré, Makarova und, sagen wir Ananiashvili glücklich wären, wenn es eine derartige Biografie über sie gäbe – um nur ein paar der Ballerinen zu nennen, die im letzten halben Jahrhundert neben Haydée die Weltspitze bildeten. In der Tat, wenn ich dem Buch etwas vorzuwerfen hätte, wäre es das Faktum, dass es den exzeptionellen Rang Haydées zu absolut setzt – als ob es neben ihr überhaupt keine andere gegeben hätte, die es mit ihr hätte aufnehmen können.

Doch die Voreingenommenheit des Rezensenten dekuvriert sich bereits im ersten Absatz, wenn er konstatiert: „Der klassische und neoklassische Tanz steckt (soll wohl heißen: stecken, kj) in einer Legitimationskrise; seine Choreografen finden nur schwer aus ihrer genrebedingt rückwärtsgewandten Introvertiertheit.“ Ja, wem gegenüber haben sich denn der klassische und der neoklassische Tanz zu legitimieren? Etwa dem Rezensenten als Autor des Buches „no wind no word“ gegenüber, dessen Titel man versucht ist, um ein „no dance“ zu ergänzen? Folgt der zweite Kahlschlag im zweiten Absatz, wenn der Autor feststellt, „1976, drei Jahre nach dem Tod des Choreografen John Cranko, der das Stuttgarter Ballett zu einer der weltweit gefragtesten Compagnien gemacht hatte, übernahm Haydée die Leitung der Truppe. Als sie sich 1996 von dieser Funktion zurückzog, lebte das Ballett nur noch vom Glanz vergangener Tage.“

Ja war denn der Autor je nach 1976 in einer Stuttgarter Ballettvorstellung? Ist ihm entgangen, dass sich das Stuttgarter Ballett unter Haydée und ihrem Nachfolger bei aller respektvollen Wahrung des Cranko-Erbes aus sich selbst erneuert hat, dass es die kreativste der großen Opernballettkompanien ist? Doch die Kreativität sieht er allein vom Ballett Frankfurt unter William Forsythe gewahrt. Schon mal was gehört vom Vergleich zwischen Äpfeln und Birnen? Für ihn ist dies keine tiefgreifende Biografie, „sondern eher eine sich über mehr als 200 Seiten hinziehende Lobeshymne in alter Aufzählmanier. Sie betoniert die Ballerina in ihre Bewunderung ein und fungiert damit als eine altbackene Neuerscheinung. Eines jener reflexionsarmen Tanzbücher von adoratorischem Sentiment, die heute bereits unlesbar geworden sind.“

Und wer ist hier die oder der Einbetonierte? Die quicklebendige Haydée? Nicht doch der in seinem Fortschrittswahn Einbetonierte aus Wien, der sich offenbar dünkt, ein anderer Karl Kraus zu sein? Unlesbar? Ich bin mit meiner Lektüre noch nicht ganz am Ende angelangt. Aber ich habe es mit andauernder Spannung gelesen und bin voll Bewunderung, wie gründlich die Autorin recherchiert hat, wie sie die verschiedenen Aktivitäten Haydées analysiert hat, gerade auch ihre großen Rollen, welch ein klare, unverschnörkelte Sprache sie schreibt, wie schön und großzügig das Buch gedruckt und mit den Fotos von Gundel Kilian ausgestattet ist. Aber vielleicht bin ja auch ich eingemauert in den Beton meiner Voreingenommenheit für die Ausnahmeleistung einer großen Frau und ihrer Biografin. Weswegen ich wohl doch noch mein kj über „Ein Ausnahmebuch über eine Ausnahmefrau“ schreiben muss.

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