Schritte in die Zukunft

31. Hamburger Ballett-Tage

Hamburg, 21/06/2005

Dem Choreographie-Nachwuchs eine Chance geben - darauf setzt John Neumeier in Hamburg seit einigen Jahren. Zwar ist der Wettbewerb um den Dom-Pérignon-Preis gestorben, weil sich die Champagner-Firma zurückzog, aber dafür platziert Neumeier Werke von gleich vier Youngstern mit zwei Vorstellungen an den Anfang seiner 31.Ballett-Tage. Begleitet von ausgiebiger Werbung: 30 Seiten werden dem Quartett in der Broschüre zu den Ballett-Tagen gewidmet. Manch eine(r) träumt von solchen Startbedingungen. „Schritte in die Zukunft“ wird der dreistündige Abend (einschließlich 30-minütiger Pause) ohne falsche Bescheidenheit genannt.

Einen Fingerzeig auf die Zukunft vermittelt allerdings, wie mir scheint, allein Marco Goecke - er gewann 2003 den Prix Dom Pérignon - mit seinem über weite Strecken originellen „Beautiful Freak“, in dem er so konsequent Verdrehungen, Verbiegungen, Verschlingungen und Verschiebungen des Körpers schafft, dass tatsächlich in einigen Abschnitten das Groteske, Skurrile schön zu werden beginnt, die „normalen“ ästhetischen Maßstäbe zu wackeln beginnen. Ohne Scheu vor dem vermeintlich Hässlichen vollführen die elf Männer beklemmend intensiv die „Zumutungen“ Goeckes wie das wellenartige Robben quer über die leer geräumte Bühne mit hoch nach hinten gestoßenen Beinen oder ganze Serien von Bocksprüngen - und die Froschpose, bei der sie, mit den Händen abgestützt, den Oberkörper waagerecht über den angewinkelten Armen balancieren, die „Froschschenkel“ nach hinten gehoben.

Nach und nach werden so alle zu Fröschen. Winken da Ionescos „Nashörner“ um die Ecke?! Die absurde Anmutung verstärkt sich, wenn unvermittelt Streichinstrumente auf die Bühne geworfen werden, die krachend zerbersten, oder Pfeifen, Schnaufen, Knurren eingefügt werden. Dazu nuschelt der legendäre Jazztrompeter Chet Baker einige seiner morbide melancholischen Songs, im Wechsel mit oft brachialen Schlagzeugpassagen (Michael Jüllich), deren Urgewalt Goecke äußerlich nicht aufnimmt. Ihm geht es wohl eher um den inneren Aufruhr.

Yukichi Hattori denkt in seinem „Wege“ nach über den Einzelnen in der Masse, über Beziehungen, öfter plakativ, seltener genau auf den choreographischen Punkt. Ihm dient Musik von Bach als Fundament, sein Stück öffnet und schließt mit dem Prelude zur Suite Nr.1 D-Dur für Cello. Bewegt sich der Einzelne zu Beginn inmitten einer Menge gewollt locker über die Bühne wandernder, spazierender, schlendernder Frauen und Männer (so um die 70 dürften es sein), liegt er am Ende hinten, unbeachtet. In der Zeit dazwischen hockt er meist unbeweglich im Meditationssitz, reagiert nicht sein Umfeld, auch nicht, wenn eine Frau ihn „anmacht“ oder ihn vier Paare umringen, ihm die Mütze vom Kopf reißen. Bei der latenten Brutalität belässt es Hattori. Sie scheint auch durch bei der Episode Mann-Frau plus Seitensprung. Dort gelingen ihm Momente, die tiefer greifen trotz arg konventioneller Bewegungen. Zum Schluss, nach vielem Gelaufe der Masse vor und hinter einem Schleier, erscheint schließlich vorn eine Schwangere - zu welchem Behufe ist mir schleierhaft.

Christopher Wheeldon, viel gefragt weltweit, versucht erst gar nicht, tiefer zu greifen. Er schliddert in „Polyphonia“ neoklassisch, ein blasser Nach-Nach-Nach-Balanchine, durch die Klavierstücke Györgi Ligetis, meist aus dessen, noch von Bartok beeinflusster Frühzeit. Zum Start wählte er jedoch Ligetis Etüde „Désordre“ aus dem Jahr 1985 mit ihren schwirrenden, sich überlagernden Klangflächen und -linien, souverän live interpretiert, wie alle folgenden Stücke, von Volker Banfield. Mit vier Paaren spielt Wheeldon dazu synchrone und voneinander abgesetzte Abfolgen durch - nicht ein Hauch von Ligetis revolutionärer Findungskraft scheint darin auf. Und so geht‘s munter weiter ohne jegliches Eigenprofil, zum rechten Auge rein, zum linken wieder raus. Wheeldons glatter Stromlinienstil liegt Neumeiers Tänzer/innen nicht sonderlich. Sie kämpfen, um mitzuhalten. Schwamm drüber.

Fast mühelos bewältigte das Ensemble dagegen Jiri Bubeniceks technisch anspruchsvolle Choreographie „Unerreichbare Orte“. 55 Minuten füllt Bubenicek mit einem fast ununterbrochenen Bewegungsfluss, ähnlich ohne Punkt und Komma wie sein stilistisch gänzlich anderer „Kollege“ Stephan Thoss in Hannover. Und verliert sich in aneinander gestückelten, teils spektakulär schwierig auszuführenden Momenten, tappt selbstgefällig in die Falle der hohlen Virtuosität. Nichts fügt sich zusammen: Nicht der Beginn mit drei Paaren, jedes wie auf einem Kegel stehend, an dessen Seiten meterlange Röcke herabfallen, nicht die Mitte mit den unvermittelt hineingetragenen Wandsegmenten, nicht die peinliche End-Apotheose, in der ein Paar auf den hinten wieder erscheinenden roten Kegel zuschreitet. Eine Stimme raunt Sätze wie „I love to love you - I love to hate you - I hate to love you“. Bruder Otto Bubenicek, auch als Tänzer eingespannt, hat zur Begleitung eine Art Musik ohne einen Funken Inspiration zusammengestückelt. Begabung ist Jiri Bubenicek nicht abzusprechen. Deutlich scheint das Talent auf in einem Pas de deux, in dem sich die beiden fast ineinander verschrauben, in animalischer Angst vor dem Verlust des/der Partner/in. Die kleine Form liegt ihm wohl mehr als die bombastisch aufgeblasene.

Fazit: Ein enttäuschender Abend mit nur einem Highlight trotz bester Voraussetzungen.

Am 2.Juli wird „Schritte in die Zukunft“ noch einmal getanzt. Vier weitere Vorstellungen sind für den September 2005 (und den 1.Juli 2006) angesetzt. Zeit genug, Bubeniceks „Unerreichbare Orte“ kräftig zu kürzen und zu verdichten und Hattoris „Wege“ vom Ballast des dauernden Gewusels zu befreien. Wheeldons blasse „Polyphonia“ sollte gestrichen werden.
 

A-Premiere am 19.Juni
Gesehen: B-Premiere am 21.Juni

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