William Forsythe: „We Live Here“

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Frankfurt, 26/04/2004

Die letzte Vorstellung des Balletts Frankfurt mit „We Live Here“, William Forsythes jüngster Frankfurter Produktion – das heißt: die letzte Vorstellung in der Main-Metropole, denn die allerletzte findet Anfang Juli in Paris statt. Das Opernhaus so überquellend voll, wie ich es schon lange nicht mehr erlebt habe (und die Forsythe-Truppe wohl auch nicht). Offenbar waren alle Fans gekommen, um Abschied zu nehmen von „Billy“ und seinen Tänzern. Durchaus nicht traurig gestimmt, sondern ausgesprochen gut gelaunt, lachend und jauchzend auf die vielen Tollereien reagierend, auch auf die englischsprachigen Pointen aus der Hinterlassenschaft des Dadaismus. Am Schluss dann schier endlose Ovationen und sogar ein Blumenregen sowie ein paar anrührende Dankesworte Forsythes.

Damit gingen nun also zwanzig Frankfurter Forsythe-Jahre zu Ende. Und während man herumrätselte, wie‘s denn nun weitergeht mit dem Neo-Forsythe-Pakt von Frankfurt, Dresden und Berlin, denke ich an die zwanzig Ballets Russes-Jahre von Diaghilew, und wie sie die Welt des Balletts verändert haben. Die endeten bekanntlich 1929, vor genau einem dreiviertel Jahrhundert. Und da frage ich mich, welchen geschichtlichen Stellenwert man denn wohl anno 2079 den zwei Dezennien des Frankfurter Forsythe-Balletts einräumen wird.

Ich habe da so meine Zweifel! Und komme mir vor wie das Kind im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern. Und denke, ohne mich auch nur mindesten mit seinem Rang vergleichen zu wollen, an den berühmten Kritiker André Levinson, der noch aus der alten Schule des St. Petersburger Mariinsky-Balletts stammte und all die Errungenschaften Diaghilews für einen Irrweg des Balletts hielt. Die Geschichte hat Diaghilew recht gegeben und Levinson als einen konservativen Rechtgläubigen der Danse d‘école exkommuniziert. Da sehe ich mich als einen bekennenden Nicht-Versteher der Forsytheschen Ballett-Ästhetik als einen Ausgestoßenen der Forsythe-Gemeinde und kann ihm nur wünschen, dass die Geschichte sich in seinem und meinem Fall wiederholen möge!

Übrigens ist pünktlich zu Forsythes Abschied von Frankfurt die erste umfassende Monografie über ihn erschienen – überraschenderweise nicht von einer seiner beiden engagiertesten Fürsprecherinnen (E.-E. Fischer und Roslyn Sulcas), sondern unter der Herausgeberschaft von Gerald Siegmund mit einem Autoren-Kollektiv, zu dem unter anderen so mit der Arbeit und dem Werk Forsythes vertraute Persönlichkeiten wie Antony Rizzi, Sabine Huschka, Dana Caspersen, Prue Lang und Nik Haffner gehören. Der Band ist großzügig mit Fotos von Dominik Mentzos ausgestattet und bietet im Anhang unter anderem eine knappe Jahreschronik der Vita Forsythes sowie ein sehr gründliches Werkverzeichnis und die Liste aller Tänzer des Balletts Frankfurt zwischen 1984 und 2004. (Gerald Siegmund, Hrsgb.: „William Forsythe – Denken in Bewegung“, Henschel Verlag, Berlin 2004, 176 Seiten, 24.90 Euro)

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