Ver-rückte Welt

Philip Taylor und sein BallettTheater München bringen Lewis Carrolls Traum-Roman „Alice im Wunderland“ die Bühne des Gärtnerplatztheaters.

München, 06/12/2004

Die Wogen sind geglättet und statt gegen Abschaffung anzukämpfen, kann das Ensemble des BallettTheaters München sich nun entspannt der neuen Premiere von Ballettchef Philip Taylor widmen. Sujet der Uraufführung am 12. Dezember wird Lewis Carrolls legendäre Alice im Wunderland sein, deren phantastische Traumabenteuer laut Autor aus einer realen Erzählsituation heraus entstanden sind: magische Bilderwelten, surreale Verstöße gegen Denkgewohnheiten und die Suche nach Identität, ausgedrückt in der phänomenalen Sprache des Modern Dance.

Schritt für Schritt und Bewegung auf Bewegung folgen lassend, setzt Philip Taylor sein neues Ballett aus einzelnen, mit den Tänzern separat erarbeiteten Puzzle-Stücken zusammen. Und während draußen die ersten Schneeflocken auf den nassen Asphalt herabschweben, trifft sich im Trainingssaal des Gärtnerplatztheaters die an der Neuproduktion beteiligte Crew (Musik/Dramaturgie/Licht) zu einer ersten Durchlaufprobe. Obwohl noch fast alle dekorativen Versatzstücke, Bühnenhänger und Großrequisiten fehlen – man sozusagen nur in Kostümansätzen die phantasievoll abstrahierende Herangehensweise der Ausstatterin Claudia Doderer an die Vorlage des wohl bekanntesten Klassikers der britischen (Kinder-)Literatur „Alice‘s Adventures in Wonderland“ aus dem Jahr 1865 erahnen kann – wird schnell klar: So ein Karussell an ungewöhnlichen Paarkonstellationen hat es schon lange nicht mehr auf der Tanzbühne gegeben. 
 

Vesna Mlakar: Herr Taylor, Sie beschäftigen sich seit ungefähr vier Jahren mit diesem Thema und haben vor 1 ½ Jahren ihre Zusage für das Alice-Ballett gegeben. Welcher Aspekt der Geschichte interessiert Sie besonders? 

Philip Taylor: Im Prinzip die Beziehung zwischen Alice, der Herzkönigin und der Herzogin – also das Spannungs-Dreieck, in dem diese Frauen zueinander stehen. Diese Gegenüberstellungen finden sich auch im Roman, werden in meiner Interpretation aber besonders herausgearbeitet. Dafür habe ich Anderes wie z. B. das Krocketspiel mit den Flamingos klipp und klar herausgelassen. Es wäre Unsinn zu versuchen, diese im Buch so schöne Szene auf die Bühne zu bringen.

Die Gefahr, ins rein Plakative abzugleiten und vorgezeichnete Begebenheiten nur noch mimisch nachzustellen, wäre wohl zu groß. 

Philip Taylor: Genau. Was man braucht, ist ein Zwischenweg, der es erlaubt, vieles aufzugreifen, statt einfach zu zitieren. Natürlich ist das nicht immer leicht, gerade weil der Stoff so bekannt ist. Jeder hat schon sein eigenes Bild von „Alice im Wunderland“. Doch das BallettTheater München besteht aus so individuellen Tänzern, dass es wirklich Spaß macht, die unterschiedlichen Persönlichkeiten gezielt in bestimmten Rollen zu erleben. 
 

Die Probe beginnt mit einem Solo von Gesine Eileen Moog: eine aufgeweckte und präsent geschmeidige Tänzerin, die wir gerne auf ihrer abenteuerlichen Reise in ein bizarres, irreales Land begleiten. Noch wird an den Details getüftelt und am richtigen Timing gearbeitet (kleine Unfälle wie z. B. ungewollte Zusammenstöße zwischen dem Herz- und dem Pikbuben mit eingerechnet). Doch schon jetzt zeichnet sich die genaue Personenzeichnung allein durch den Tanz ab. Ein plötzlich aufgesetztes, unverschämt breites Grinsen verrät die Katze (Alan Brooks) und der Kartenkönigin (Sophie Aimée Abrioux) hat Taylor eine so martialische Bewegungssprache auf den Leib choreografiert, dass kein Zweifel an ihrer negativen Einstellung zu den Mitmenschen bleibt. Überraschend ist, wie perfekt die vollen Orchesterklänge des polnischen Komponisten Witold Lutosławski – Andreas Kowalewitz wird eine feine Collage seiner erstmals für den Tanz freigegeben Werke dirigieren – die Dynamik und die Surrealität der Handlung unterstützen: Vom ersten Augenblick an versprüht die Musik einen Drive, wie geschaffen für das phantastische Ballett. 
 

Vesna Mlakar: Ihre Alice ist nicht das kleine, naive Mädchen, dass sich in eine eigene Welt träumt, sondern vielmehr eine selbstbewusste Frau, die Erfahrungen sammeln will. 

Philip Taylor: Lewis Carroll hat immer gesagt, egal was man aus Alice macht, drei Charaktereigenschaften muss sie besitzen; alles andere ist eigentlich überflüssig: Meine Alice ist daher neugierig, sie kennt den Unterschied zwischen richtig und falsch und sie ist ehrlich. Und in diesem Sinn ist Alice nicht an ein bestimmtes Lebensalter gebunden. Es stellt sich vielmehr die Frage nach Lebenserfahrung. Deshalb habe ich an den Anfang diese Visionen gestellt, wo Alice in einer Art No-End-Situation die unterschiedlichen Figuren und Charaktere sieht. Sie entscheidet sich, den Korridor zu verlassen und „irgendwie weiterzugehen“. Somit übernimmt sie mehr Verantwortung für die folgenden Episoden. 

Gibt es eine Kernaussage? 

Philip Taylor: Das Hauptthema bei Alice im Wunderland ist die Flucht. Die Flucht weg von der Realität in ein anderes, sogenanntes WUNDER-Land, wo alles ganz toll anmutet. Doch auch hier passieren schlimme Dinge und das Ballett endet in einer Flucht zurück in die Realität. Die Schwierigkeit dabei ist, dass Alice von Abenteuer zu Abenteuer stolpert, ohne dass eine ihrer kuriosen Begegnungen oder Konfrontationen je eine Auswirkung auf das weitere Handeln oder Geschehen nimmt. Nur zum Schluss treffen alle Figuren in der Gerichtsszene zusammen und wenden sich – quasi in einem Show-down – gegen Alice und attackieren sie. Wir haben lange darüber diskutiert, ob wir „Alice im Wunderland“ in einem Krankenhaus oder in der heutigen Gesellschaft spielen lassen. Innerhalb eines Jahres haben wir so annähernd drei Ballette designt und unzählige Geschichten erzählt, bis wir ganz bewusst zum Original zurückgekehrt sind. Alles andere war für mich einfach nicht glaubhaft.


Interview und Text: Vesna Mlakar
Uraufführung Alice im Wunderland – Ballett von Philip Taylor mit Musik von Witold Lutoslawski Premiere am 12. Dezember, Staatstheater am Gärtnerplatz.

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