Nijinsky-Gala XXX

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Hamburg, 27/06/2004

Mit einem viereinhalbstündigen Marathon krönte das Hamburg Ballett den dreiwöchigen Marathon der 30. Hamburger Ballett-Tage. Ein großartiges Finale eines offenbar einmaligen Unternehmens, denn das hatte es zuvor in der Ballettgeschichte noch nicht gegeben – nicht bei Petipa in St. Petersburg, nicht bei Diaghilews weltweiten Tourneen und auch nicht bei Balanchine in New York; ein so kompaktes Angebot allabendlich wechselnder Titel. Mit Recht kann John Neumeier, der charmant wie immer durch das Programm führte, stolz sein auf die dreißigjährige Ernte, die er in diesen Juni-Wochen in die Scheuer fuhr (und noch schöner wäre es, wenn er dem Pas de deux sein männliches Geschlecht beließe und ihn nicht fortwährend als das Pas de deux kastrierte). Das Publikum feierte ihn und seine Tänzer denn auch gebührend und bestätigte: mögen wir auch in Deutschland (noch) keine Elite-Universität haben, so haben wir doch zumindest eine (ich meine, sogar zwei) Elite-Kompanie(n).

Ein Abend der vielfältigen Bezüge. Beginnend mit dem Prolog eines Rückblicks auf die erste lokale Neumeier-Kreation: „Désir“ von 1973, einfühlsam getanzt von Joelle Boulonge und Peter Dingle. Doch dann sofort der Sprung in die unmittelbare Gegenwart: Hamburg jüngste Star-crossed Lovers: Helène Bouchet und Thiago Bordin als Julia und Romeo. Und dann folgten Schlag auf Schlag als weitere Neumeier-Shakespeareana: Lloyd Riggins und Anna Polikarpova als Hamlet und Ophelia, Barbora Kohoutova (bei dieser Gelegenheit zur Ersten Solistin befördert) und Carsten Jung mit dem „Sommernachtstraum“ und Adèla Pollertová mit Yohan Stegli sowie Margaret Illmann und Gregor Hatala aus Wien mit Ausschnitten aus „Wie es euch gefällt“. Und dann, mit besonderer Herzlichkeit willkommen geheißen, die „Heimkehrer“ Gigi Hyatt und Gamal Gouda als Desdemona und Othello.

Äußerst geschickt verband Neumeier den Rückblick in die Vergangenheit und internationale Gegenwart im zweiten, „Favorites – Blanchine, Friends, ‚Old Friends‘ und ein Abschied“ überschriebenen Teil. Mit „For Elizabeth“ verabschiedete er Elizabeth Loscavio und gab ihr als Partner Alexandre Riabko – und so durchwehte diesen glückstrunkenen Dvorák-Pas-de-deux zugleich herbstliche Nostalgie und frühlingshafte Aufbruchsstimmung. Nach einem Rückblick auf die „Josephs Legende“ (Yukichi Hattori, Laura Cazzaniga und Otto Bubeníček) gab es sodann einen Hauch Pariser „Sylvia“-Eleganz mit Nicholas Le Riche und Eleonora Abbagnato, gefolgt von der charmestrotzenden Ashton-Hommage der „Frühlingsstimmen“, von Alina Cojocaru und Johan Kobborg hingehaucht wie auf Äols Schwingen, aus dem Londoner Crystal Palace – noch überhöht durch Balanchines „Tschaikowsky Pas de deux“: St. Petersburg-New Yorker Nobelklassizismus oder die Hohe Schule der Danse d‘école – ein Fest der Sinnenschönheit, zelebriert von Diana Vishneva und Vladimir Malakhov.

Ein süperber Einfall Neumeiers: seinen zu Ehren von Maurice Béjart seinerzeit mit Ivan Liška und Kevin Haigen kreierten „Old Friends“-Pas de deux erst von eben diesen introduzieren und dann an Ivan Urban und Riabko weiterreichen zu lassen – und so die traditionsstiftende Kraft des Balletts zu würdigen. Und als ob das nicht genug wäre, gab es noch einen dritten Teil: „Mahler – Was die Musik mir erzählt“, ein Herzensanliegen Neumeiers – wie man weiß – beginnend mit „Rondo“, seinem Pas de cinq, und seinem ersten Mahler-Ballett überhaupt, Jahrgang 1970. Und wenn es dann in einem der Mahler-Lieder heißt: „Ich bin der Welt abhanden gekommen“, so hätte Mahler, ehemals Opernkapellmeister am Dammtor, wäre er an diesem, übrigens musikalisch vorbildlich vom Philharmonischen Staatsorchester unter der Leitung von Klauspeter Seibel akkompagnierten Abend dabei gewesen, Neumeier wohl ein neues Lied gewidmet: „Ich bin in Hamburg angekommen“.

Das bestätigte das Publikum denn auch den noch folgenden Ausschnitten aus der Vierten (mit Lucia Lacarra und Cyril Pierre aus München) und der Dritten Sinfonie – Neumeiers Signaturwerk, das er an diesem Abend einleiten ließ von den sieben Uraufführungspionieren um Gigi Hyatt, Marianne Kruuse, Edouard Bertini und Ivan Liška, bevor dann die heutigen Hamburger, mit Jiří Bubeníček und Silvia Azzoni an der Spitze den Schulterschluss mit den Hamburger Repräsentanten von 2004 vollzogen (ohne doch die Verbindung mit den Altvorderen François Klaus und Sandra Rodriguez vergessen zu machen). Nicht angekündigt: das turbulente Medley aus den „Bernstein Dances“: die Kompanie und das Publikum außer Rand und Band und ein Herz und eine Hamburger Seele. Habe ich mich getäuscht, oder habe ich wirklich August Everding aus himmlischen Höhen in den Jubel der 1650 einstimmen gehört?

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