Marcia Haydée in „Simplicius Simplicissimus"

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Stuttgart, 08/05/2004

Schön, sie nach so langer Zeit wieder auf der Bühne zu sehen, die 33 Jahre lang, also praktisch die Hälfte ihres Lebens, ihr Zuhause war: Marcia Haydée, vielgeliebte Assoluta des Stuttgarter Balletts. Erst als Crankos Muse und Primaballerina, dann als Direktorin der Kompanie. Nicht als die große Tanzactrice, als die sie sich unauslöschlich unserem Gedächtnis eingeprägt hat – warum kommt eigentlich keiner unserer choreografischen Jungtürken auf die Idee, einmal ein Ballett um sie und für sie zu kreieren – es muss ja nicht unbedingt „Der Besuch der alten Dame“ sein – wie wär‘s denn à la Fellini mit „Marcia und die Geister“ (ihrer großen Rollen)? Sondern als Mitwirkende in der Neuinszenierung von Karl Amadeus Hartmanns „Simplicius Simplicissimus“. Dabei handelt sich‘s um eine Kammeroper nach dem Roman von Grimmelshausen. Auf dem Besetzungszettel ist sie ausgewiesen als „Dame“. Eigentlich handelt es sich um eine stumme Rolle – als Tänzerin, die in der dritten der drei Szenen, beim Bankett des Gouverneurs, sozusagen als Buhlin, das lasterhafte Leben der feinen Gesellschaft verkörpert.

In der Stuttgarter Inszenierung von Christof Nel erscheint die Rolle allerdings erheblich aufgewertet. Hier ist sie in der Tat eine Dame. Gegenwärtig in allen drei Szenen, hat sie eine Menge Text zu sprechen – sogar den Schluss, in dem der Kommentator noch einmal das traurige Resümee verkündet, das am Eingang dieser Ballade über den Dreißigjährigen Krieg steht: die Reduzierung der deutschen Bevölkerung von zwölf auf gerade mal vier Millionen Menschen. Sie tut das mit großer Würde, wie sie denn überhaupt ungemein würdevoll durch die drei Szenen schreitet, blendend anzusehen in dem eng anliegenden schwarzen Mantel, unter dem sie ein rotes Kleid trägt. So begleitet sie den einfältigen Simplicius auf seinem kurzen Weg durch das Leben – nicht als sinnliche Verführerin, sondern eher als mütterlicher Schutzengel. In der Tat tröstet sie ihn nach dem Verlust seiner Eltern und seiner Heimat, indem sie sich seiner wie eine Pietà annimmt. Später zieht sie ihre Kreise, unablässig, wie ein Derwisch. In ihrer großen Szene im dritten Teil – eigentlich ein Verführungstanz à la Salome – ist sie denn auch mehr unwilliges Opfer der Grabschereien des Gouverneurs als laszive Stimulantin erotischer Ausschweifungen.

In meinem Archiv blätternd, stelle ich fest, dass ich die äußerst selten gegebene Oper zum letzten Mal vor ziemlich genau fünfzig Jahren bei den Berliner Festwochen im Hebbel-Theater gesehen habe – mit Lilo Herbeth als Dame in der Tanzeinstudierung von Gustav Blank. Die Wiederbegegnung mit der inzwischen siebenundsechzigjährigen Marcia Haydée verdeutlicht schmerzlich, was für eine potente Actrice wir verloren haben, seit sie es vorzieht, nur noch in choreografisch minderbemittelten Produktionen aufzutreten. Dabei hätte sie doch die Möglichkeiten, zu einer anderen Therese Giese, Elisabeth Flickenschildt oder Marianne Hoppe des Ballett-Theaters zu werden. Reid Anderson sollte sich wirklich etwas einfallen lassen, sie, die doch eine wahrhaft Theaterbesessene ist, in einem angemessenen Rahmen auf die Bühne zurückzuholen, die doch so offensichtlich ihr Leben ist! Wie wär‘s denn mit einer kleinen StB 2 Kompanie?

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