Christian Spuck: „Die Kinder“

oe
Essen, 13/05/2004

Eine normale Abo-Vorstellung, fünf Wochen nach der Premiere am 10. April. Das Haus gut besucht – aber: der zweite und dritte Rang sind gar nicht erst aufgemacht worden. Da wird man sich wieder bewusst, wie privilegiert wir in Stuttgart sind, wo es gar nicht genug Vorstellungen des neuen Abends mit den drei Uraufführungen geben kann, die jedes Mal ausverkauft sind, und nach denen das Publikum schier ausrastet vor Begeisterung! In Essen immerhin am Schluss langanhaltender Beifall – durchaus nicht selbstverständlich angesichts des Anspruchs des Abends.

Dies ist also Christian Spucks zweiter Abendfüller nach „Lulu“ in der laufenden Saison. Achtzig pausenlose Minuten lang, beruhend auf dem gleichnamigen Stück von Edward Bond, mit einem Szenarium des Stuttgarter Dramaturgen Jens Schroth (ein neuer Mann ans Spucks Seite). Die Musik, viel elektronischer Klangmüll, stammt vom Stuttgarter Martin Donner, seines Zeichens Komponist, Pädagoge, Produzent und DJ., die Ausstattung von Dirk Becker und Iris Lölhöffel. Es sind auch zwei Schauspieler beteiligt, von denen besonders Emilia Blumenberg als Mutter gewaltige Textmengen abzusondern hat (der Fremde, Karsten Gaul, von dem sich erst ganz spät herausstellt, dass er der verlassene Geliebte der Mutter ist, kommt wesentlich glimpflicher davon).

Wenigstens sind es diesmal deutsche Texte, die man weitgehend sogar versteht. Die vierzehn Tänzer von Martin Puttkes Essener Kompanie sämtlich in Topform, bestens trainiert von Anja Fischer – wirklich ein formidabler Anblick in dieser perfekten Harmonie. Dazu die drei Solisten Wladislaw Solounov, Taciana Cascelli und der zwar nur kurz beteiligte, aber technisch enorm geforderte und seine Sache virtuos machende Tomas Ottych – alle drei in bester Kondition. Ich war allerdings alles andere als hingerissen. In dem Stück von Bond geht es um den Generationskonflikt, um das Thema Eltern (in diesem Fall die schrill durchgeknallte Mutter und der Fremde, der sich als Serienkiller erweist) kontra Kinder, die Schwierigkeiten haben mit ihrer Pubertät. Es geht um Hass und Gewalt, um Rache, die fortzeugend immer neues Unheil gebiert – ein typisch Bondsches Thema (erinnert sich noch jemand, dass er das Libretto für Henze/Forsythes „Orpheus“ lieferte – und wollte nicht auch Cranko mit ihm zusammenarbeiten?). Die vorprogrammierten Konflikte sind allerdings nur textlich verständlich zu übermitteln – jedenfalls gelingt es Spuck nicht, sie choreografisch plausibel zu gestalten.

So choreografiert er anfangs ziemlich lange mehr oder weniger unschuldige Kinderspiele (darunter aber auch schon die Steinigung einer Puppe als Warnung vor dem schwelenden Gewaltpotenzial). Und dann eine gute Stunde lang immer dieselben Schrittarrangements in seinem modern ambitionierten, klassisch grundierten Idiom. Das ist ungefähr zehn Minuten lang spannend anzusehen – besonders wenn es so brillant exekutiert wird wie von den Essener Tänzern – ödet dann aber mit seinen ständigen Wiederholungen ziemlich rasch an und erschöpft sich schließlich in schierer Langeweile. Vor allem gelingt es ihm nicht, die Mordserie des Fremden verständlich zu inszenieren – da verschwinden lediglich die Tänzer, einer nach dem anderen, von der Bühne, während aus dem Schürboden jeweils ein weiteres Steckbrief-Porträt heruntergelassen wird.

Eine individuelle Charakterisierung der drei Hauptsolisten ist gar nicht erst versucht worden (Manko auch bereits in seiner Stuttgarter „Lulu“). Da ist ihm Jörg Mannes mit seinen individuellen Tänzerporträts in den Karlsruher „Liaisons dangereuses“ um Klassen überlegen! So sehe ich die Beteiligung der Schauspieler als eine Ausflucht Spucks und ein Eingeständnis seines Unvermögens, die Story Bonds mit choreografischen Mitteln zu gestalten (ich muss allerdings zugeben, dass auch ein versierterer Profi als Spuck vermutlich daran gescheitert wäre – der Stoff ist ausgesprochen ballett-untauglich). Hoffentlich kommt er jetzt nicht auf die Idee, als nächsten Abendfüller ein großes Handlungsballett über den belgischen Massenmörder Dutroux zu choreografieren, womöglich mit einem Libretto von Henning Mankell. Er scheint ja ein ausgesprochenes Flair für derartig abwegige Stoffe zu haben.

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