Apollinische Klarheit

Lisa-Maree Cullum in „Die Kameliendame“

München, 12/03/2004

Die dritte Aufführung der diesjährigen Ballettwoche des Bayerischen Staatsballetts brachte, nach einem dem Vernehmen nach hervorragend getanzten „Porträt Jirí Kylián“ am Vorabend, einen unerwarteten Höhepunkt. Lisa-Maree Cullum, von einem Teil des Publikums oft lediglich für ihre souveräne Technik respektiert, aber darstellerisch als spröde angesehen, tanzte zum zweiten Mal die Titelrolle. Von Ivan Liska und Colleen Scott auf diese Glanzrolle für dramatische Ballerinen vorbereitet, hatte sie in Alen Bottaini als Armand den idealen Partner. Er begann schon in der Auktion mit packender Präsenz, sie drang bereits in der Theaterszene mit ihrer charmanten Koketterie gut durch und tanzte in fahriger Nervosität beim Anblick des ihr in „Manon“ vorgezeichneten Schicksals. Mit scharf akzentuierter, gleichwohl absichtslos wirkender Dramatik fand sie sich in den Pas de deux mit Armand. Da vermisste man nichts, sondern entdeckte Vieles neu. Das war eckig, wunderbar beseelt und als Paartanz harmonisch fließend. Cullums blitzende Blicke waren richtig gesetzt und ihr gesamtes Mienenspiel überzeugte.

Auf der von einer blendend aufgelegten Sherelle Charge (Prudence) und dem charmanten Alexandre Vacheron (Gaston) geprägten Landpartie entschied sich Cullums Marguerite sehr schlicht gegen den reichen Grafen und für Armand. Im anschließenden Pas de deux verkörperte sie eine anschmiegsame, glückliche Frau. Wie sie, seine leidenschaftlichen Impulse genießend, abwartete und dann im Bewusstsein ihres Glücks selbst Akzente setzte, das kam aus einer überlegenen Ruhe und wirkte tief. Cullum erreichte hier einen Grad der künstlerischen Freiheit, den ich bei ihr noch nie gesehen habe. In ihrer Konfrontation mit Monsieur Duval, dessen starker Wille und innerer Zwiespalt von Ivan Liska auch an diesem Abend imponierend verkörpert wurde, sowie ihrer erneuten Begegnung mit Armand gelang es, diese Hochspannung zu halten. Und Bottaini beendete den Mittelakt mit einer großartigen Eruption von Armands zorniger Verzweiflung über Marguerites unvorhersehbaren Abschied.

Mit Bottaini gewann auch die von Fiona Evans anmutig getanzte Olympia. Nach dieser Episode spielte Cullum, dezent und edel, wie schon in den Anfangsakten, die Schuldige, die Abbitte leisten will und schwach wird: Noch einmal nachgeben – zugunsten dieser Liebe! Aber Cullum zeigte eine apollinische Leidenschaft, die ganz aus dem vollkommenen Verständnis der genialen Choreographie Neumeiers kam. Die Bedeutung jedes vertrackten Schrittes war klar zu lesen, man folgte gebannt. Auch Irina Dimovas Darstellung der Manon war übrigens von einem ausgezeichneten Rollenverständnis und Hingabe geprägt. Vor allem aber überzeugte jede Situation, die Bottaini dominierte. Er veränderte sich, zum zweiten Mal verlassen, zu einem gefährlichen Finsterling, der seine Rache an der Geliebten öffentlich vollzieht. Schließlich überzeugte auch der letzte Theaterauftritt. Als Todkranke kam Cullum ohne viel Husten aus, wirkte insgesamt fragil und bewies, dass sie eine große dramatische Linie glaubwürdig gestalten kann. Ihr Tod im weißen Kleid der Unschuld war der Schlussstrich unter einen Ballettabend höchster Qualität, zu dem die Eleganz des gesamten Ensembles viel beitrug.

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