Rätselhaftes und Verwirrendes

„Creative Forces“ vom NDT 1 bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen

Ludwigsburg, 21/06/2003

Nach langer Zeit war mit dem NDT 1 wieder einmal die Haupttruppe der berühmtem Niederländer in Ludwigsburg zu Gast. Und wie gewohnt befindet sich die traditionsreiche Kompanie mit ihren schnellen, geschmeidigen und klugen Tänzern stets auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen. Stärker aber, als man es von den ansonsten eher abstrakten Stücken des NDT 1 gewohnt ist, nähern sich Jiri Kylián und seine Choreografen-Kollegen im Programm „Creative Forces“ dem Tanztheater - es ist ein Abend mit viel Text.

Um den Schmerz geht es laut Programmheft in „Z/NA“, einem immerhin acht Jahre alten Stück des israelischen Choreografen Ohad Naharin - es könnte auch jedes beliebige andere Thema sein. Unbeweglich sitzen hinten fünf Menschen in dunklen Roben und beobachten einige tanzende Hippie-Gladiatoren, vorne vertrauen auf dem Bauch liegende Tänzerinnen ihre Gedanken einem Mikrofon an. Ein Dudelsackspieler im Kilt überquert die Bühne, ein Kameramann zoomt ins Publikum und projiziert einzelne Zuschauer auf eine frisch geweißelte Wand, über Lautsprecher lässt der Rapper Ice T eine wüste Schimpf-Kanonade ab, und zum Schluss tanzen alle in niedlichen Hängerkleidchen zu einem Popsong. Zu wirr wirkt das alles, viel zu assoziativ zusammengeworfen, als dass man wirklich wüsste, was man damit anfangen soll.

Karge, klare Bilder in schwarz und weiß setzen Paul Lightfoot und Sol León dagegen. Vor zwei Wochen erst hatte das neueste Stück des Tänzer- und Choreografen-Ehepaars in Den Haag Premiere: „Signing Off“ handelt von Abschiednehmen und Tod, es wirkt zu zwei tragisch wabernden Sätzen aus dem Violinkonzert von Philip Glass fast ein wenig pathetisch. Eine kahlköpfige Todesfigur nimmt zwei Frauen mit sich, lässt sie in schwarzen, wallenden Stofffluten ganz leise und sanft verschwinden.

Abschied ist auch der Grund für das nächste Stück: Sol León beendet ihre Bühnenkarriere und tanzt deshalb noch einmal mit Lightfoot ihren allerersten Pas de deux „Sigue“ zu Klavierstücken von Chopin. Er zeigt zwei eigenwillige Menschen in einer eigenwilligen Annäherung: Sie in spanisch-hochgeschlossenem Schwarz, er in einer hautfarbenen Korsage, fast nackt. Zum Schluss stäubt Sand auf die am Boden Liegenden und verleiht ihrer spröden Gemeinsamkeit etwas Archaisches, lange Vergangenes.

Den Sinn für theatralische, wirkungsvolle Bilder haben Lightfoot und León ganz offensichtlich von ihrem Lehrmeister Jiri Kylián, dem langjährigen Leiter des NDT. Er wird in „Claude Pascal“, dem letzten Stück des Abends, richtiggehend zum Illusionisten. Vier lebendige Figurinen, angetan mit Krinoline, Frack und Zylinder, lässt er in eine Art Zauber-Kabinett mit Spiegeltüren treten, wo sie im Dadaisten-Tonfall über das Wesen der Zeit mutmaßen (wieder sind León und Lightfoot dabei, er mit einer zirkusreifen Jonglage und sie mit soviel Persönlichkeit und ironischer Schauspiel-Grandezza, dass man sie postwendend ins NDT 3 weiterschicken möchte). Die stark übertriebenen Begleitgeräusche, das raffinierte Spiel mit Ball, Stock oder Fächer erinnern an frühe Slapstick-Filme oder an Jahrmarktspuppen. Zwischen diese schrillen Auftritte, deren Dialoge er bis auf ein Zitat aus Bram Stokers „Dracula“ selbst verfasst hat, setzt Kylián zu einer Art Glasscherben-Musik von Dirk Haubrich drei abstrakte Pas de deux mit der ihm eigenen, perfekten Mischung aus intellektuell und schön. Ein rätselhaftes Tanzstück, wohl wahr, aber ein Stück von theatralischer Faszination und tänzerischer Schönheit.

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