„Le Sacre du printemps“ von Uwe Scholz

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Leipzig, 27/02/2003

Nun hat also auch er zur Gipelbesteigung angesetzt, Uwe der Furchtlose, 44, seit über zehn Jahren Ballettchef in Leipzig, mit inzwischen über hundert Choreografien in seinem Werkkatalog. Ob Bach, Mozart, Beethoven, Bruckner oder Zimmermann: über allen prangt sein Jakobs-Motto: Ich lasse Dich nicht, Du segnest mich denn! Jetzt also ist er zur Himalaya-Tour des Balletts aufgebrochen – nein, nicht der ballettpolitischen Korrektheit folgend zu „La Bayadère“, sondern direkt zum Mount Everest: von Strawinskys „Le Sacre du printemps“. Kein Mann der halben Sache, präsentiert er die „Atombombe der Musik des 20. Jahrhunderts“ in gleich zweifacher Ausfertigung: zuerst die von Strawinsky selbst gefertigte Bearbeitung für Klavier vierhändig (in Leipzig allerdings von Wolfgang Manz und Rolf Plagge mittels zweier Flügel auf der Bühne ausgeführt) und dann, nach der Pause, in der originalen Fassung mit dem Gewandhausorchester unter der Leitung von Henrik Schaefer (wobei die rhythmische Sprengkraft der Klavierversion ein Vielfaches der eher zahmen Orchesterwiedergabe betrug).Der Personenzettel verkündet: Inszenierung, Choreografie, Bühne, Kostüme, Licht, Film – Uwe Scholz. Gewundert hätte einen danach nicht, ihn auch noch im ersten Teil die Flügel vierhändig traktieren und anschließend die Leipziger musikalischen Gewandschneider dirigieren zu sehen.

Im ersten Teil ist die Bühne eine weiß gekachelte Box – dazu die beiden Flügel und im Hintergrund eine leise vor sich hin dämmernde Kloschlüssel. Ein Tänzer, Giovanni di Palma, in kurz behoster Trainingskluft, beginnt mit dem Training, probiert ein paar Schulschritte aus, geht über zu klassischen Enchainements, springt, dreht. Er bleibt aber immer im klassischen Bereich, ein geborener Tänzerprinz – und das geht erstaunlich gut mit Strawinskys sperriger Musik zusammen. In seiner Seele allerdings rumort´s fürchterlich. Das schließt man aus den riesigen Filmsequenzen auf der Fliesenwand. Da blitzen Erinnerungsfetzen aus seinen knabenhaften Anfängen auf, zeigen ihn als langsam heranreifenden Danseur noble, werden überblendet von seiner begierig sich auch ihn stürzenden Schwanenseemutter, die ihn mehr und mehr in die Verzweiflung treibt und schließlich, vergeblich Trost suchend, in den Leipziger Schwulentreff der „Blauen Trude“. Das kotzt ihn an, und er kotzt es aus – direkt in die Kloschüssel, in die er dann beherzt greift und mit braunen Klumpen – gemach, gemach: es handelt sich um braunen Kartoffelbrei – die Wände und sich selbst beschmiert.

Surprise, surprise, unser ehemaliges Sonntagskind des Stuttgarter Balletts – ein bisschen Nijinsky, ein bisschen frustrierter Prinz, und immer sehr unglücklich sozusagen als 68er Wilder. Giovanni di Palma macht das entsagungsvoll, sieht prächtig aus und hat hier also, lesen wir hinterher, Strawinskys „Erektion“ getanzt – also genau das, was wir schon immer wissen wollten! Nach der Pause ist Uwe dann aber wieder zu sich selbst zurückgekehrt: ein Großmeister der choreografischen Architektur, mit 56 Tänzern und Tänzerinnen am Bau. Die gruppiert er immer wieder um, lässt sie die Bausteine im Dominoverfahren weiterreichen, kristallisiert immer neue Formationen aus – so zähmt er Strawinskys orgiastische Musik – na ja, das sind nun wohl seine Eruptionen.

Das Ganze bleibt immer strikt musikgezeugt, und das sieht natürlich, von einer so großen Tänzerschar exakt und synchron ausgeführt, immer prima aus. Bloß wenn es dann an die Auswahl des Opfers geht und die Mädchen, reihenweise sich prostituierend, vor den Männern paradieren, geht ihm rasch die Puste aus, und für das Opfer selbst, die offenbar an fürchterlichen Magenkrämpfen leidende liebliche Kiyoko Kimura, ist ihm dann schier gar nichts mehr eingefallen, und so hievt er sie dann am Schluss mittels eines Seils in die Höhe und lässt sie, ein anderes „Phantom of the Ballet“, ins Publikum schwingen. Das aber ist nun doch bass erstaunt und bereitet den ja auch wirklich fabelhaften Tänzern stürmische Ovationen – und auch dem Ballettchef selbst, den sie auch in Leipzig inzwischen „unseren Uwe“ nennen – jedenfalls in der zweiten Vorstellung, nachdem er bei der Premiere offenbar noch ein paar kräftige Buhs hatte einstecken müssen.

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