John Neumeiers „Préludes CV“

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Hamburg, 22/06/2003

Zur Eröffnung der 29. Hamburger Ballett-Tage also die Uraufführung von „Préludes CV“, ein choreografisches Skizzenbuch in zwei Teilen, Choreografie, Bühnenbild und Kostüme von J. N. Und was heißt CV? Ich tippte zunächst auf ein Ballett für den Christlichen Verein (ohne junge Männer). Die Aufklärung erfolgte prompt: C steht für Cello und V für Violine – beides auch für Curriculum Vitae, also Lebenslauf, Na denn!

Zugrunde liegen zwei Préludes-Zyklen, jeweils 24 Stück, einmal für Cello und Klavier (eine Auftragskomposition) und für Violine und Klavier. Die für Violine und Klavier haben Neumeier veranlasst, die zweite Folge für Cello und Klavier bei der jungen, in Amerika lebenden Russin Lera Auerbach zu bestellen. Interpretiert auf der Bühne von der Komponistin und Ani Aznavoorian (Cello) und von Vadim Guzman (Violine) mit Angela Yoffe (Klavier), erwiesen sie sich als brauchbare Charakterpiecen, die Violin-Préludes wesentlich tanzinspirierender, weil farbiger, melodisch vielgestaltiger, rhythmisch pikanter als die einförmigeren Cello-Préludes. Beide Teile wurden vom Publikum einhellig akklamiert – am Schluss gab es sogar ausgesprochen starken Beifall.

Sogar: denn leicht kommunizierbar ist nicht, was Neumeier dem Publikum abverlangt. Keine Story, nichts Nacherzählbares – allenfalls Geschichten ohne Worte, „Versuchen Sie nicht, das Ballett zu verstehen“, warnt Neumeier die Besucher. Sie sind aufgerufen zu hören und zu sehen und sich dann selbst zusammenzureimen, was das alles bedeuten mag. Ein Ballett zum Selbstmachen sozusagen! Vermutlich mit mancherlei autobiografischen Bezügen von Neumeier selbst, aber auch der Tänzer, die hier aufgefordert worden waren, sich selbst stärker als gewohnt choreografisch einzubringen. Deswegen heißen ihre Rollen einfach so wie sie selbst: Silvia (Azzoni), Sascha (Alexandre Riabko), Carsten (Jung), Elizabeth (Loscavio), Heather (Jurgensen), Lloyd (Riggins), Peter (Dingle) und Im‘r da (für Yukichi Hattori).

Im zweiten Teil vervielfachen sie sich auch – der zweite Teil ist überhaupt viel stärker gruppengeprägt. Im ersten gibt es fünf Frauen und acht Männer – im zweiten zwölf Frauen. Choreografisch hat Neumeier an seine sperrige – vom Publikum nicht sonderlich geschätzte – „Winterreise“ angeknüpft. Die Choreografie ist noch anti-klassischer, noch aggressiver auch, kantiger, heftiger, explosiver, ganz und gar nicht schön. Hoch dramatisch und konfliktgeladen. Humor gibt es auch (besonders für Otto Bubeníček, der erst im zweiten Teil zum Zuge kommt). Hattori hat eine seiner Hochleistungsartistik-Varationen, Riggins eine atemberaubende Zirkelrotation in der Hocke. Es gibt eine sportive Jungen-Sequenz – eine Art Box-Training. Es gibt auch anrührende Zärtlichkeiten, so wenn Jurgensen sich von ihren beiden Partnern ab- und dem Violinisten zuwendet.

Und dann sind da etliche rätselhafte Überleitungsmomente, wenn Hattori mit einer brennenden Kerze erscheint – auch am Schluss, wenn er sie auslöscht und Riggins sie wieder anzündet. Wie denn überhaupt vieles rätselhaft bleibt. Wie etwa der Auftritt Dingles und der Männer mit ihren Bierflaschen – oder die Szene, in der sich Laura Cazzaniga von ihrem Leibchen befreit und mit nackten Brüsten tanzt. Ja, es geschieht ungeheuer viel auf der nachtschwarzen Bühne – und es ist durchaus spannend, auch wenn man nicht dahinter kommt, worüber sich die Tänzer so echauffieren, sie tun es jedenfalls leidenschaftlich engagiert, als tanzten sie um Kopf und Kragen. Neumeiers Kreativität bleibt auch in seinem 125. Ballett staunenswert!

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