Das Hamburg Ballett mit John Neumeiers „Möwe“

oe
St. Petersburg, 11/07/2003

Bange Erwartung: Wie werden die Petersburger auf den Tschechow aus Hamburg reagieren? Das Haus gut besucht, aber nicht ausverkauft. Langsam, sehr langsam läuft das Stück an, wenn Ivan Urban seinen Papierflieger faltet. Doch schon der wunderschöne Pas de deux mit Heather Jurgensen als Nina bewirkt eine spürbare Erwärmung um ein paar Grade. Merkliches Befremden sodann bei Kostjas Vision vom Ballett der Zukunft mit seinen Goleisowsky-Reminiszenzen. Es braucht seine Zeit, die Personen und ihr Verhältnis zueinander zu identifizieren – vielleicht auch weil Neumeier hier so ungemein subtil psychologisiert (dies ist sicher sein Antony Tudor am nächsten stehendes Ballett). Es sieht übrigens fabelhaft aus, vor dem unendlichen blauen Horizont, der das Blau des Mariinsky-Theaters bis in den Baltischen Meerbusen verlängert.

Anna Polikarpova als Ballerina alten Stils (ein bisschen Makarova?), Jiří Bubeníček als ihr Ballettmeister-Lover, Lloyd Riggins als der liebenswert trottelige Sorin mit seiner so verständnisinnigen Liebe zu seinem Neffen, Joëlle Boulogne, als Mascha heimlich in Kostja verliebt und sich doch in ihr Schicksal als Verlobte mit dem warmherzigen Peter Dingle schickend – sie und alle die anderen, ausgesprochen individuellen Charaktere, hat Neumeier mit ihren Stärken und Schwächen portraitiert. Man spürt, wie viel Liebe und Menschlichkeit er in dieses Ballett investiert hat. Jedes neue Sehen offenbart neue Feinheiten der Choreografie.

Der Beifall am Ende des ersten Aktes freundlich, aber von Enthusiasmus kann nicht die Rede sein. Eine junge russische Kollegen meint in der Pause: na ja, Tschechow kann man eben nicht vertanzen! Und Shakespeare, Moliere, Dumas, Tolstoi e tutti quanti? Die Revueszene, die den zweiten Teil eröffnet, wird auch eher mit Erstaunen als entflammter Begeisterung aufgenommen. Ich habe den Eindruck, dass die Russen die Anspielung auf den Kabarett-Stil der zwanziger Jahre überhaupt nicht verstehen. Eher schon die leicht parodistisch überzogenen Zitate des alten Petipa-Stils im Divertissement „Der Tod der Möwe“. Vielleicht überfordert Neumeiers Dramaturgie der verschiedenen stilistischen Ebenen und der Generationskonflikt zwischen den Arkadia-Trigorin-Senioren und den Kostja-Nina-Junioren die Russen, die simplere dramaturgische Konstellationen gewohnt sind.

An der Intensität der Hamburger, mit der sie ihre Rollen aus-/ und sich in die Charaktere hineintanzen, liegt es sicher nicht, wenn sich die Begeisterung am Schluss in Grenzen hält. Neumeiers Choreografie ist hier so ausgesprochen sophisticated, dass es zu ihrer Würdigung eines gebildeten Publikums bedarf. Und das sind die Petersburger derzeit – sorry to say – noch nicht, trotz ihrer enormen Erfahrung, die sich inzwischen ja auch auf ihre Bekanntschaft mit allen westlichen Errungenschaften zwischen Balanchine, Ashton, Robbins bis zu Cranko, MacMillan und Bejart stützt. Sie sind gebildet, mehr als jedes westliche Publikum, was die Tradition angeht. Doch Neumeier verlangt mehr, er hat dieses traditionelle historische Wissen um eine neue ballettdramaturgische Dimension erweitert, und die ist ungewohnt für sie. Und darum würde es mich nicht wundern, wenn die hiesigen Kritiker zurückhaltend auf diese „Möwe“ reagieren werden. Das Publikum tat es am Schluss von Anfang an mit rhythmischem Klatschen, das viele Vorhänge lang anhielt. Doch, wie gesagt: ein stürmischer Erfolg (wie ich ihn für „Marguerite and Armand“ erwarte, wenn die Royals demnächst kommen.) war‘s nicht! Aber das lag meines Erachtens an den Erwartungen des Publikums, nicht an den singulären Qualitäten dieses Balletts!

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