Choreography Kills

Uraufführung in Essen: Crystal Pite entromantisiert in „Uncollected Work“ künstlerische Schöpfung als (Selbst-) Zerstörung

Essen, 02/06/2003

Fünf Jahre lang war Crystal Pite Solistin in William Forsythes Frankfurter Ballett. Letztes Jahr kehrte sie zurück nach Kanada, wo sie inzwischen feste Choreografin der „Ballets Jazz de Montreal“ ist - und unter dem Namen Kidd Pivot ihre eigene, freie Gruppe gegründet hat. „Uncollected Work“ ist deren erste abendfüllende Produktion, die am Wochenende im Essener PACT-Zollverein uraufgeführt wurde. Ein zweiteiliger Abend, der das permanente Scheitern, Zweifeln und das endlose Kreisen des künstlerischen Schaffens vorführt. Das Werk als Geniestreich? Pure Romantik! Wenn sich der Vorhang öffnet, bleibt all die Qual im Dunkeln.

Pite hat von William Forsythe vor allem die Lektion gelernt, sämtliche Bühnenmittel in schneidender Präzision zu verknüpfen. Ein kluger Kunstgriff stülpt dabei in „Farther Out“, dem ersten Teil des Abends, das Innere des Künstlerkopfes nach außen: Pite trägt eine große Plastikglocke über dem Haupt. Ein Astronaut, der den Zuschauer mitnimmt auf eine Reise durch die Galaxien der inneren Künstlerwelt. Was sie da hinter ihrer Schreibmaschine laut in die Tasten diktiert, bleibt unverständliches Gemurmel im gläsernen Kopf. Dafür beginnen auf der Bühne die Gedanken ihr Eigenleben. Pites Partnerin Cori Caulfield ist die Hauptfigur jener nie erzählten Science-Fiction-Story, an der die Autorin wohl knabbert. Zu Owen Beltons elektronischem Soundtrack, der das Schreibmaschinen-Rattern verfremdet und gleich Gewehrsalven aus den Lautsprechern krächzen, knallen und knacksen lässt, begegnen sich in suggestiven Bildern immer wieder aufs Neue Künstlerin und Figur. „It´s the same story all over again“, heißt es dazu aus den Lautsprechern, in zugespielten Textfragmenten aus einem Essay der Autorin Annie Dillard, das diesen Abend inspirierte.

Caulfields Handballen sind abgebogen, ihre Glieder scheinen an den Gelenken immer verquerer zusammenkonstruiert, völlig verbogen ihre Körperachsen. Mal bleibt die Schreibmaschine der Künstlerin, deren Kugel-Kopf immer mehr beschlägt, unerreichbar fern, dann wieder tippt sie, bloß um das Papier aus der Maschine zu reißen, zu zerknüllen und ins Publikum zu schießen. Urplötzlich geistern, ganz Forsythe´scher Überraschungs-Slapstick, zwei ziemlich menschelnde Aliens über die Bühne: Belton loopt Dillards Sentenz „It didn´t work at all“, legt spritzigen Kontrabass darunter - und zur groovigen Jazznummer führen diese Außerirdischen mit ihren dreitatzigen Glitzerhandschuhen eine urkomische Stepptanznummer hin.

„I have no idea in the world what it was going to be”, kommentiert Drillards Text. Auch das Stück wabert außerhalb von Zeit und Raum um ein nie greifbares Zentrum. Am Ende erwacht Pite aus ihrem Schaffensalptraum. Befreit vom Kugelkopf tanzt sie auf der in tiefem Nachtblau ausgeleuchteten Bühne ein zeitgenössisch-klassisches Solo zu harmonischer Pianomusik vor einem violett glitzernden Sternenvorhang, der funkelt wie die Haut der schrulligen Tanztierchen davor.

Hier ist es noch einmal gut gegangen - nach der Pause, in „Field:Fiction“, das, produziert vom Ballett Frankfurt, bereits vor gut einem Jahr im TAT zu sehen war, endet die Kunst im Strick: Zwischen einer ganzen Armee aus Metallsoldaten, die entfernt an die fernöstlichen Terrakottakrieger erinnern, zappelt Pite als lebendes Pendant, den Kopf in der Schlinge. „This is one of many possible endings“, steht bedeutungsschwanger auf Papiertafeln zu lesen. Caulfield liest dazu weitere Dillard-Texte vor. Als Frau im edlen Kleid mit langer Schleppe, die aus Forsythe-Stücken wohl vertraut erscheint, schreitet sie langsam durch die Soldatenreihen - und wird dabei von Pite buchstäblich „choreografiert“: Sie schiebt ihre Figur, gibt ihr Impulse, formt sie wie eine Puppe. Doch die wird widerspenstig, dann schieben auch noch Bühnenarbeiter zur falschen Zeit einen Baum herein. Bis zur physischen Erschöpfung rast Pite kreuz und quer über die Bühne, plärrt ihre Wut heraus, kickt aggressiv mit einem Schmerzensschrei die schweren Metallfiguren um. Die Bilder und Metaphern sind fast überklar: Die Kunst als permanenter Kampf, der Künstler - ein selbstmordgeweihter, verzweifelter Krieger, aber auch ein Stehaufmännchen. Was an „Uncollected Work“ begeistert, ist die Umsetzung dieser simplen Statements: Pite zeigt weder poppigen Ulk noch tiefintellektuelle Dekonstruktion. Ihr Stück funktioniert allein über den Körper - und seine Beziehungen zu Sound, Licht und Raum. All das ist in fast atemloser Konzentration auf den Punkt verdichtet.

So geht nicht zuletzt das Schlussbild förmlich unter die Haut: an Beckett gemahnende absurde Poesie, wenn die Künstlerfigur neben dem Baum steht, Papierschnee aus ihren Händen rieseln lässt, und ihr Körper - aus Erschöpfung und Verzweiflung - immer mehr aus seiner statischen Figuration zitternd ausbricht. Die Figur im Rock liegt regungslos, wie tot, hinter diesem Schneevorhang. Bei allem Künstlerfrust und Zweifel, den Pite artikuliert: Sie ist auf dem besten Wege zu einer Meisterschülerin, die noch dazu ihren eigenen, und dabei ziemlich dicken Kopf mitbringt.

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