Saisonstart mit John Neumeiers „Die Möwe“

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Hamburg, 22/09/2002

Zurück von seinem fulminanten „Messias“-Gastspiel in Athen, hat das Hamburg Ballett die Spielzeit 2002/03 mit John Neumeiers „Die Möwe“ eröffnet, der vierten Vorstellung – der eigentlichen Premiere, wie mancher meinte. Denn an diesem Abend tanzte Jiří Bubeníček erstmals den für ihn kreierten Kostja, diesen Zukunftsträumer, den er, verletzungsbedingt, kurzfristig an Ivan Urban hatte abgeben müssen. Der hatte sich als ein vorzüglicher, uneigennütziger Einspringer bewährt, doch Bubeníček verleiht dem Kostja eine zusätzliche, leicht melancholisch timbrierte Dimension, die dem spezifisch Tschechowschen Charakter der Rolle zugutekommt.

Im Übrigen war‘s die Premierenbesetzung – eine Ensembleleistung höchsten Ranges, die durch die Rollenkonkurrenz von Jiří und Otto Bubeníček als Kostja und Trigorin ein unterschwelliges Spannungsverhältnis erhielt. Wie denn überhaupt die Hauptrollen, vor allem Heather Jurgenson als Nina, aber auch Anna Polikarpova als Arkadina, noch an Vielschichtigkeit gewonnen haben. Und das haben auch Joelle Boulogne als resignierende Mascha und der so überströmend warmherzige Peter Dingle als Medwedenko, die einen besonders schönen, schwermutssatten Pas de deux zu tanzen haben. Damit hätte Neumeier sich begnügen sollen, denn die Übernahme der Figuren des Arztes und der Eltern von Mascha aus der Tschechowschen Komödie kompliziert die Personalkonstellation überflüssigerweise und erschwert ohne die Kenntnis des Originals das Publikumsverständnis.

Ein leichtes Ballett ist „Die Möwe“ nicht – und die Popularität von Neumeiers „Kameliendame“ wird sie nie erreichen. Kann sie nicht – schon ihrer elegischen Grundstimmung wegen nicht (die die von manchen monierte Revueeinlage als Kontrast unverzichtbar macht). Gleichwohl halte ich sie für Neumeiers reifstes Ballett und sein kulturhistorisch ambitioniertestes Werk bisher. Beglückend fand ich auch diesmal wieder die musikalische Stimmigkeit der ausgesuchten Pieçen von Schostakowitsch, Tschaikowsky und Skrjabin – nebst dem rasanten Percussionsgewitter von Evelyn Glennie – von Markus Lehinen als Dirigent und den Musikern feinsthörig auf die Choreografie abgestimmt.

Beim zweiten Sehen ist mir erst so recht bewusst geworden, mit welch einer differenzierten Sensibilität Neumeier die Rollen skizziert hat. Ich wünsche mir lediglich, dass er die beiden Schlussbilder etwas kürzen würde – sie ziehen sich doch arg in die Länge, auch wenn dabei ein paar schmerzliche musikalische Einbußen unvermeidbar wären.

Alles in allem: diese „Möwe“ ist ein choreografisches Juwel – kreiert in der gleichen Spielzeit wie die ganz aus dem Neumeierschen Kanon herausfallende „Winterreise“! Wo in aller Welt gibt es einen anderen Choreografen, der dazu imstande wäre? Wissen wir eigentlich, was wir an Neumeier haben?

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