„Lenk meine Schritte engelwärts“

Staatstheater Oldenburg, Kleines Haus

Oldenburg, 20/04/2002

Mit den Engeln hat er es, der Martin Stiefermann: Zu seiner Zeit als Kieler Ballettdirektor (1995-97) brachte er „Fürchtet euch nicht“ heraus, ein Stück über „Menschen und Engel“. Jetzt griff er das Thema in „Lenk meine Schritte engelwärts“ am Oldenburger Staatstheater erneut auf. Dort wirkt Stiefermann seit Beginn dieser Spielzeit als Chef des Tanzensembles, das zugleich unter dem Namen „MS Schrittmacher“ ein Bein in Berlin hat (Dock 11, Prenzlauer Berg) – eine besondere, an Opernhäusern noch ungewöhnliche Konstellation. Im Vergleich zu seinem choreografisch und dramaturgisch dünnblütigen Kieler Produkt hat Stiefermann mit dem Oldenburger „Engelwärts“ einen enormen Sprung nach vorn gemacht: Seine Bewegungsfantasie vermag tänzerisch dicht gestaltete Abläufe zu entwickeln, sei es mit Soli, bei Paaren oder in der Gruppe, die er meist geschickt im Raum aufteilt, sei es im spannungsvollen Kontrast von Einzeltänzer und -tänzerin, Paar und Ensemble. Selbst in den häufigen Momenten, in denen nicht klar wird, wohin er inhaltlich zielt, entsteht fast durchweg eine Bildkraft, welche die Blicke geradezu ansaugt.

Was nicht zuletzt auch seinem Ensemble zu verdanken ist: Es wirft sich mit einer mitreißenden Verve in das knapp anderthalbstündige Geschehen, ein Ausdauertest für Kondition und Konzentration. Weil den vorzüglichen, fast ohne Ausnahme bühnenpräsenten Tänzern im Programmheft keine Rollen zugeordnet sind, kann man nur raten, welche der sieben Frauen und sechs Männer welchen Part tanzen: Antje Rose, Maura Morales, Sita Ostheimer, Francesca Peniguel, Naomi D'Amour, Mata Saka, Aliksey Schoettle, Matthias Markstein, Andreas J. Etter, Jeroen Mosselmann, Igor Kirov, Joris Camelin, Nicky Vanoppen.

Lediglich Etter und Schoettle sind mir aus Kieler Zeiten bekannt. Etter tanzt einen der sechs Grünblauen, die den sechs Weißen gegenüberstehen. Schoettle fährt (als Engel?) mehrmals auf einem Laufband in drei Meter Höhe, gekleidet in ein weißes, weit ausschwingendes Gewand (Kostüme: Heike Keinath), vollführt rätselhafte Hand- und Armbewegungen: ein harmloser Gag.

Stiefermann entwickelt sein Thema in zwei Teilen, „Requiem“ und „Leben“. Im ersten Abschnitt beschreibt er auf der aufgerissenen Bühne, die hinten von einer gewellten Wand begrenzt wird (Ausstattung: Stiefermann und Philipp Berweger), ohne kruden Realismus Sterben und Rituale wie das Waschen eines nackten Toten. Die Sterbenden schwinden über mehrere Stationen vom Stehen zum mehr und mehr Einkrümmen bis zum Liegen dahin. Um sie herum wuseln und rutschen Gestalten in weißer Kleidung, umarmen sie ohne Berührung.

Schließlich sitzen die „Toten“ vor kleinen Rasenstücken mit der Dekoration von Gräbern. Die Pause bricht die eigentümlich faszinierende Stimmung. Sie kehrt im zweiten Teil nicht wieder, in dem Stiefermann viel Wasser einsetzt – vielleicht als Quell des Lebens. Vier Männer und zwei Frauen ziehen sich bis auf die blendend weiße Unterwäsche aus, schlittern wie Pinguine auf dem Bauch über die Bühne, umschwirren blaugrün gekleidete Gestalten. Ein Eisbrocken donnert herab, zersplittert, von den Seiten werden massenweise Eiswürfel auf die Fläche geschüttet. Tiefgefrorene Kleidung wird auseinander gepult, angezogen, von oben senken sich weiße Hemden und Hosen. Zwischen ihnen verschwinden die Tänzer. Das hat man woanders schon besser gesehen, ist vordergründig aufgepfropft, oberflächlicher als der erste Teil.

Dennoch wird sichtbar: Stiefermann hat seine Zeit in der freien Szene – 1997 bis 2002 – genutzt, ist dem allzu Esoterischen so weit entkommen, dass er sich dem Tanz widmen kann. Das Negative der sonst eindrucksvollen Produktion ist jedoch ihre Musik: Das „Requiem for my friend“ des polnischen Filmkomponisten Zbigniew Preisner, ein eklektisches, seichtes Betroffenheitswerk, dessen zwei Teile süßliche Harmonien und seifige Melodien mit Hingabe pflegen.

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