Jirí Kylián, porträtiert vom Bayerischen Staatsballett

oe
München, 04/12/2002

Zwei Choreografen-Porträts hat sich das Bayerische Staatsballett als Hauptproduktionen für die laufende Spielzeit vorgenommen. Noch vor John Neumeier, dem im Frühjahr die nächste Premiere gewidmet sein soll, war jetzt Jiří Kylián dran, zweifellos eine der Top-Persönlichkeiten der internationalen Szene. Auf dem Programm drei Werke aus drei verschiedenen Arbeitsperioden: „Svadebka“, also Strawinskys „Les Noces“, von Kylián 1982 fürs Nederlands Dans Theater choreografiert, als Wiederaufnahme der Münchner Einstudierung von 1992.

Bemerkenswert immerhin, dass die jetzige Premiere bereits die 39. Vorstellung war (auf wie viele Vorstellungen kommen die Kylián-Einstudierungen einzelner Werke in Stuttgart oder Berlin?) Bemerkenswert und höchst alarmierend indessen die Tatsache, dass dieses Ballett heute im Nationaltheater, einem Schrein der deutschen Musiktheater, aus Kostengründen zu einer Tonbandaufnahme getanzt wird.

Für mich ein weiterer Beweis für den grassierenden musikalischen Qualitätsverlust unserer Ballett- und Tanztheaterkultur. Und nicht beglückt hat mich auch, zu sehen, wie bei dieser Premiere in allen Preisgattungen noch ausreichend Karten an der Abendkasse vorhanden waren. Denn wenn schon Kylián bei einer Premiere des Bayerischen Staatsballetts nicht mehr ein volles Haus erzielt (sondern offenbar nur noch Abendfüller mit Klassikerstatus) …

Gleichwohl: ein bedeutender Abend, von bestechender Qualität sowohl was die Auswahl der dargebotenen Werke angeht als auch ihre tänzerische Wiedergabe. Und die Bestätigung Kylíans als einer unserer bedeutendsten Choreografen. Was mich so besonders beglückt, ist noch vor seinem imponierenden Einfallsreichtum, der Kontrastvielfalt seiner Konzepte und der außerordentlichen ästhetischen Faszination seiner Arbeiten die genuine Musikalität aller seiner Ballette (weswegen mich einigermaßen wundert, dass er dem Münchner Entschluss zu einer Aufführung mit Tonband zugestimmt hat – es ist ja doch etwas anderes, ob das NDT bei seinen Tourneen auch so verfährt, oder ob Strawinskys Musik an einem der international führenden Opernhäuser mit einem der renommiertesten Orchester des Landes nur noch aus dem Lautsprecher erklingt).

Bestechend die geradezu architektonische Klarheit der Formen und Strukturen dieser Choreografie, die ich mir freilich in den großen Gruppenformationen noch uniformer ausgeführt wünschte, und wie im Rahmen dieser großen Corps-Choreografie Kusha Alexei und Norbert Graf in der Lage sind, das Drama dieser alles in allem ja Zwangsverheiratung zu personalisieren. Und danach dann Kyliáns Kristallisationschoreografie aus dem Jahr 1995: „Bella Figura“ als deutsche Erstproduktion. Wobei ich zugeben muss, dass mir die Musikcollage aus Pergolesi, Lucas Foss etc. einige Skrupel bereitet, zu verteidigen noch am ehesten als Grundlage für ein Ballett, in dem Traum und Realität untrennbar miteinander verschachtelt sind, und dass eben gerade darin der spezifische ästhetische Reiz dieses Balletts besteht. Übrigens auch in der offensichtlichen Inspiration zu einem Frauen-Duo durch den Dürer-Holzschnitt zweier Frauen in einem Badezuber. Fünf Frauen und vier Männer, alle in Topform: ein Ballett, das mehr Rätsel aufgibt, bis in den musiklosen Schluss hinein, als es eindeutige Botschaften übermittelte.

Und zum guten Schluss dann auch noch Kyliáns Mozart-Farce à la Tollwood in seinen „Sechs Tänzen“ (KV 271) aus dem Jahr 1986 für vier über alle erotischen Stränge schlagenden Paare, ein Mozart-Ballett wie kein anderes (und ganz sicher nicht mit Balanchines „Divertimento Nr. 15“ oder seiner „Symphonie Concertante“ vergleichbar, aber auch nicht mit Kyliáns eigener anderen Annäherung an Mozart in „Petite mort“, Jahrgang 1991).

Übrigens schönen Dank für das ganz auf den jüngsten Stand gebrachte Kylián-Werkverzeichnis im Programmheft! Ein hinreißender Abend, und das fünf Tage nach Stuttgarts Triumph mit den „Dances at a Gathering“. Hoffentlich hält die Glückssträhne an, wenn am Sonntag gleichzeitig die beiden verschiedenen „Bajaderen“-Produktionen in Berlin und Hamburg Premiere haben. Und was macht der von Zweifeln zerrissene Autor des koeglerjournals – welcher von beiden er das Ius primae noctis zugestehen soll? In einer idealen Welt würde er sich wohl einen Privatflug leisten und in der Pause zwischen Berlin und Hamburg jetten.

Alas! Von einer idealen Welt kann ja auch außerhalb des Balletts heute wohl kaum die Rede – siehe Berlin in diesen Tagen!

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern