Hamburger Ballettgastspiel I mit „Matthäus-Passion“

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Baden-Baden, 15/10/2002

Siebzehn Jahre nach dem Stuttgarter Gastspiel des Hamburg Balletts mit John Neumeiers „Matthäus-Passion“ die Wiederbegegnung mit dieser ambitioniertesten aller Neumeier-Kreationen in der ersten von drei Vorstellungen im Festspielhaus Baden-Baden. Neben dem St. Petersburger Marinsky-Ballett gehören die Ballett-Hamburger inzwischen zu den Stammbesuchern in B.-B. – diesmal mit nicht weniger als sechs Vorstellungen (drei weitere mit „Nijinsky“), sehr zu Dank der Stuttgarter Ballettfans, die in ganzen Karawanen zu den Gastspielen nach B.-B. pilgern.

Inzwischen in so ziemlich allen Ballettkapitalen der Welt zu sehen und zu einem Klassiker des modernen Ballett-Theaters geadelt, war ich gespannt, wie ich nach so langer Zeit auf diesen Mehr-als-Abendfüller (vier Stunden Aufführungsdauer mit nur einer normalen Pause) reagieren würde, inzwischen von einer ganz anderen Generation getanzt als bei meiner letzten Begegnung.

Wenn ich gar an die Hamburger Premiere von 1981 zurückdenke: Wie erbittert wetterten damals ein paar Torhüter der klassischen abendländischen Kultur gegen Neumeiers Sakrileg, gerade diesen Monumental-Bach zu „vertanzen“, warfen ihm gar Sacro-Kitsch vor (wie fünfzig Jahre zuvor Massine mit seinen Sinfonischen Balletten von der Musikkritiker-Fraktion mit Hohn und Spott überschüttet worden war). Und heute? Gehören Ballette zu sinfonischer Musik zum Stammrepertoire von Balanchines „Sinfonie in C“ bis zu Scholzens „Bruckner 8“ – von Bach, seinen geistlichen Kantaten und Passionen ganz zu schweigen (demnächst in Mainz Schläpfers „Kunst der Fuge“).

Und diesmal in B.-B. also: ein überwältigender Eindruck – so ziemlich alle tänzerischen Bach-Annäherungen der jüngeren Vergangenheit deklassierend (Ausnahme: Spoerlis „Goldberg-Variationen“, in Teilen auch Kurzens „Mr. Gould, bitte!“). Eine Aufführung, ganz aus einem Guss, von einem Ernst und einer Würde, einer Hingabe an die Musik, die sprachlos machen. Das ganze Hamburg Ballett mit (fast) allen Solisten und Neumeier selbst in der Zentralrolle des Christus als ein Kollektiv, beseelt von einem Willen, dem selbstlosen Dienst – nicht an irgendeiner pseudoreligiösen Kulthandlung, sondern an Bach. So groß kann Ballett sein – immer noch und seinen Apostaten zum Trotz!

Dies ist ein Männer-Ballett. Umso willkommener als notwendiger komplementärer Kontrast die wenigen von den Frauen dominierten Szenen, in denen sich Silvia Azzoni, Joelle Boulogne, Heather Jurgensen und Anna Polikarpova profilieren. Als Christus ist Neumeier sozusagen das Epizentrum dieses Balletts – mit Ivan Urban als revolutionärem Aufrührer Judas und furiosen Soli unter anderen für Jiří und Otto Bubeníček, Peter Dingle, Carsten Jung und Alexandre Riabko nebst Jacek Bres und Sébastien Thill als Sprachrohren Christi. Aber die Nennung einiger von Neumeier mit gutem Recht namenlos belassener individueller Tänzer ist ungerecht gegenüber dieser Gesamtpersönlichkeit, die das Hamburg Ballett heißt. Ich kenne keine andere Kompanie im deutschsprachigen Theaterraum, die so total vom Geiste ihres Vordenkers geprägt tanzt wie die Hamburger.

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