Der Fall Neumeier

oe
Stuttgart, 02/01/2002

Da liegt mir noch eine Altlast aus dem vergangenen Jahr schwer auf der Seele. Ich meine die Berichterstattung über die jüngste Hamburger Ballettpremiere mit Neumeiers „Winterreise“. Sicher, wir haben alle unsere kleineren und größeren Voreingenommenheiten, und im Laufe meiner langjährigen Aktivitäten habe ich gelernt, dass man ein künstlerisches Ereignis aus ganz verschiedenen Perspektiven betrachten kann. Und so kann ich ganz gut auch mit Meinungen leben, die sich zu der meinen völlig konträr verhalten. Doch was sich eine große süddeutsche Zeitung jüngst mit ihrer Kritik über Neumeiers „Winterreise“ geleistet hat, überschreitet entschieden meine Toleranzgrenze.

Überschriften werden für gewöhnlich von Redakteuren gemacht und fallen nicht in die Verantwortung des delegierten Kritikers. Der war in diesem Fall eine Dame, deren Namen ich noch nie gehört hatte (das mag mein Fehler sein). Ich halte sie für eine junge Frau – und als junger Mensch leistet man sich Urteile und Formulierungen, an die man sich später nur ungern erinnert (einen meiner schlimmsten Verrisse habe ich Mitte der fünfziger Jahre über ein Gastspiel des Königlich Schwedischen Balletts bei den Berliner Festwochen geschrieben – trotzdem sind Birgit Cullberg und ich später gute Freunde geworden).

Angesichts der doch sehr ernsthaften Auseinandersetzung Neumeiers mit Schuberts „Winterreise“ und deren „komponierter Interpretation“ durch Hans Zender die Kritik mit den Worten „Leise rieselt der Schnee, John Neumeier wackelt der Zeh“ einzuleiten, ist aus meiner Sicht eine grobe Geschmacklosigkeit, die kein verantwortlicher Redakteur (und natürlich auch keine verantwortliche Redakteurin) hätte durchgehen lassen dürfen. Ein Skandal aber ist für mich, wenn die Kritikerin Neumeier anschließend als „Grövertaz“ bezeichnet. Das musste ich erst zweimal lesen, denn diese Klassifikation kommt in meinem Wortschatz nicht vor – die Assoziation zum Gröfaz war mir allerdings sofort klar. Etwas später erklärt die Dame denn auch, wer Neumeier für sie ist, nämlich der „größte Vertanzungskünstler aller Zeiten“.

Da stockt mir denn doch der Atem. Das ist keine Geschmacklosigkeit mehr, sondern mit der beabsichtigten Assoziation eine vorsätzliche Beleidigung. Und da hätte eben der oder die RedakteurIn eingreifen müssen. Natürlich weiß man inzwischen, was die bewusste Zeitung von der Hamburger Ballettarbeit Neumeiers hält (und nicht nur von Neumeier in Hamburg – die Liste lässt sich beliebig fortsetzen, gleich neben ihm rangiert offenbar Ivan Liška in München, siehe die ridikülisierende Besprechung der „Raymonda“-Einstudierung kürzlich am gleichen Ort).

Welch ein Schaden mit einer solchen Einstellung dem Ballett in Deutschland generell zugefügt wird, vermag ich mir gar nicht auszumalen. Aber der noch größere Schaden fällt möglicherweise ja auf die inkriminierte Zeitung selbst zurück, die inzwischen von den derart der Lächerlichkeit anheim gegeben Personen einfach nicht mehr ernst genommen wird.

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