„Wahnsinnsjung“ von Irina Pauls, Stadttheater

Man soll nichts übertreiben

Heidelberg, 22/09/2001

Ausgerechnet jene Menschen, die schon von Berufs wegen in einem schönen Körper leben, werfen uns, die wir vergeblich versuchen, unserem stetigen Verfall durch das Konsumieren richtig herum drehender Joghurts Einhalt zu gebieten, den Jugendlichkeitswahn und Körperkult vor. Das ist beinahe ein starkes Stück. Und wenn kurz vor dem Ende von Irina Pauls' neuem Tanzwerk „Wahnsinnsjung“ im Heidelberger Stadttheater die komplette Truppe auch noch ihre Frotteetücher fortwirft und sich – gerade erst hat sie noch höhnisch „kein Gramm Fett zu viel“ in den Saal gerapt – ausgiebig von allen Seiten in ihrer ganzen beneidenswerten, physischen Makellosigkeit präsentiert, dann ist das wie ein zynisches Wein predigen und Wasser trinken.

Das kalorienfreie Wasser spielt eine Hauptrolle in der Produktion. Es ist allgegenwärtig in diesen großen, gerippten Plastikflaschen, aus denen die Tänzer immer wieder trinken und es sich anfangs sogar gegenseitig von Mund zu Mund träufeln, auf einem Brunnen sitzt ein Frosch als Wasserspeier, überhaupt wirkt Katja Schröders Bühnenbild wie die Eingangshalle eines alten Bades, es plätschert aus den Lautsprechern und bläut geheimnisvoll in Unterwasseraufnahmen von Jürgen Frahm. Irina Pauls eröffnet mit diesem knapp anderthalbstündigen Stück ihre zweite Spielzeit als Heidelberger Ballettchefin. Sie hat es in acht ineinander greifende Szenen geordnet, die so ziemlich sämtliche Aspekte des Bemühens und des Anspruchs schildern, stets alterslos, schön und knackig zu sein.

Zu Beginn unterzieht sich die Truppe in Kleidern (Schröder) der fünfziger Jahre einem Tanzunterricht für einen Polterabend, eine Prinzessin wirft unzählige Bälle in den Brunnen und Frösche an die Wand, wo sie blutige Kleckse hinterlassen, aber keiner der bunt herausgeputzten Prinzen findet ihre Gnade. Ein vielkörpriger „Männermagazinredakteur“ gibt Tipps für stramme Hintern und Potenz, ein Mann macht (endlich eine wirklich Schlanke) Liebe mit einem Skelett, eine Schöne posiert, ihre Rankheit bewundernd, vor dem Spiegel, es werden sogar buddhistische Bewegungsrituale zu einem Fitnessprogramm umgemodelt, einschließlich sich selbst finden. Das ist alles durchaus einleuchtend und leicht verstehbar, weil es seit Jahrzehnten immer wieder mahnend proklamiert und deshalb längst Klischee geworden ist.

Aber, Mut zum „natürlichen Körper“ hin oder her, die anrührende Szene mit den sich zärtlich umschlingenden, sanft den Bühnenraum durchmessenden Nackten hätte mit „schlampigen Figuren“ dennoch erheblich an Reiz eingebüßt. Der Vorzug dieser Inszenierung ist, dass Irina Pauls zur schmalzigen und kratzenden Musik von DJ Holger Schultze nicht verbissen agitiert, sondern ruhig und oft humorvoll ihre Ansichten verkündet. Sie mahnt zum Umdenken, ohne zu verdammen, gestaltet mit ihrer gemäßigt modernen Tanzsprache klare Bilder und kommt vor allem nie ins Labern. Das Problem ist nur, dass sie selbst fortwährend ihren eigenen Argumenten den Boden entzieht. Selbstverständlich ist es Irrsinn, ausgerechnet an dem schlanksten aller ihrer Tänzerinnenkörper mit dem Filzstift die schönheitszuoperierenden Partien zu markieren.

Aber sollen wir uns etwa ihren „Alleinunterhalter“ zum Vorbild nehmen, als welcher Elmar Bringezu wie ein Hermes Phettberg der Poetry-Slams, eigene apart ringelnatzende Verse von tanzenden, alten Unterhosen und turtelnden Eisbergen aufsagend, mit nachsichtiger Allüre permanent über die Bühne schwabbelt, scheinbar mit sich und seinen Fleischmassen im Reinen? Irgendwie fehlt dem Abend die entscheidende Stringenz. Er gewinnt einem längst ausgeleierten Thema keine neuen Seiten ab, so unterhaltend er auch ist. Doch an einer dramatischen Pointe lässt es die Choreografin nicht mangeln. Ganz zum Schluss, als sich das Publikum an den kinetischen Skulpturen der nackten Körper sattgesehen und sie wohl, allem zuvor Geschauten zum Trotz, wieder als Ideale zu akzeptieren beginnt, da nehmen die Tänzer Bürsten zur Hand, mit denen sie ihre Haut zunächst massieren und bald schrubben, bis das Blut in Strömen fließt. Das stimmt freilich: Man soll nichts übertreiben.

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