„Nijinsky“

oe
Hamburg, 14/07/2001

Ein Meilenstein in der Geschichte des abendfüllenden Balletts, dieser Neumeiersche „Nijinsky“. Da waren sich die illustren Gäste der Late-Night-Party in Eppendorf ausnahmslos einig. Und sie waren aus aller Welt gekommen – zum Teil als Jury-Mitglieder des Dom Perignon Choreografen-Wettbewerbs, zum Teil Stars der morgigen Nijinsky-Gala. Und tatsächlich hat ja die vor einem Jahr herausgekommene „Nijinsky“-Produktion nichts von ihrer Faszination, ihrem theatralischen Kumulationsdrive und ihrer Effizienz eingebüßt: ein Chef d´oeuvre des modernen Ballett-Theaters! Im Gegenteil: Sie erscheint jetzt noch dichter, ihre komplexe Struktur transparenter, ihre Rollenporträts zugleich vertieft und persönlichkeitsangereichert.

Auch wird man sich bewusst, wie intensiv die Tänzer an ihren Rollen gearbeitet haben: Jiří Bubeníček an den Marathon-Anforderungen des Nijinsky, der geradezu erschütternd seine epileptischen Anfälle austanzende Yukichi Hatton als sein Bruder Stanislaw, der so sensationelle Fortschritte machende, so fabelhaft verwandlungsfreudige Alexandre Riabko in gleich mehreren Partien, die sich so leiderfüllt in ihr schweres Schicksal fügende Anna Polikarpova als Nijinsky-Gattin Romola, Ivan Urban als leicht degenerierter und zugleich leicht verletzlicher Diaghilew und und und. Dieses ganze wunderbare Hamburger Corps, das sich diesen „Nijinsky“ inzwischen so zu eigen gemacht hat, dass er zur identitätsstiftenden Image-Produktion des Hamburg Balletts geworden ist – so wie es nach wie vor Crankos „Romeo und Julia“ für das Stuttgarter Ballett ist.

Es war meine dritte „Nijinsky“-Vorstellung, und auch diesmal habe ich wieder eine Menge Feinheiten und Details entdeckt, die mir die ersten beiden Male noch verborgen geblieben waren. Auch manche Personenkonstellationen erscheinen mir jetzt plausibler als früher: die Nijinsky-Schwester Bronislawa (Joëlle Boulogne) und der junge Massine (Guido Warsany). Manches bleibt mir auch weiterhin ein Rätsel: zum Beispiel der Vater Thomas Nijinsky. Im zweiten Akt mit den interpolierten Weltkriegsreminiszenzen – obwohl außerordentlich musiksensibel zur stimmungsträchtigen elften Sinfonie von Schostakowitsch choreografiert.

Das Philharmonische Staatsorchester – übrigens an diesem Abend unter der Leitung von Rainer Mühlbach – ist um Klassen besser als 24 Stunden zuvor. Es erscheinen mir manche Passagen überdehnt, von der eigentlichen Nijinsky-Tragödie eher ablenkend. Doch alles in allem: was für eine Wucht von Ballett – welch ein Glück, dass Ballett am Anfang des 21. Jahrhunderts noch solch emotionaler Wirkungen fähig ist!

Am Rande der Party dann viele interessante Gespräche über die Ballettsituation in London, Paris, Kopenhagen, New York, Salt Lake City, Berlin, Stuttgart... Und als Tenor der mit den deutschen Verhältnissen vertrauten Gäste: das ewig gleiche Klagelied über die sträfliche Vernachlässigung der Ballettinteressen und die desaströse Ballettpolitik in „Europe´s Leading Dance Magazine“.

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