Fortsetzung der Documenta Choreologica

Berlin, 01/01/1996

Man hat sie lieben und vor allem schätzen gelernt: die unscheinbar aufgemachten Bändchen, die Kurt Petermann zwischen 1975 und 1984 als Studienbibliothek zur Geschichte des Tanzes – darunter natürlich eine so grundlegende Schrift wie Noverres Briefe über die Tanzkunst – publizierte. Der Musikwissenschaftler und Tanzhistoriker, Begründer des Tanzarchivs Leipzig, gab in der Reihe „Documenta Choreologica“ wichtige Tanztraktate als Reprint heraus, jeweils versehen mit wissenschaftlichem Nachwort und Anhang.

Zwar setzte das Tanzarchiv Leipzig nach Petermanns Tod die Reihe fort, doch ohne dessen führende Hand schlief das Projekt allmählich ein. Erst als nach der Wiedervereinigung das Tanzarchiv Leipzig im Jahr 1993 als Verein neu gegründet, die Tanzwissenschaftlerin Claudia Jeschke an das Leipziger Institut für Theaterwissenschaft berufen und eine Zusammenarbeit zwischen den zwei Institutionen eingerichtet wurde, konnte an eine Fortführung der Edition gedacht werden. Seitdem gibt Claudia Jeschke in ihrer Eigenschaft als stellvertretende Direktorin des Tanzarchivs die Reihe heraus. Geplant ist die Publikation eines Bandes pro Jahr – eine willkommene Unterstützung gewährt das sächsische Kultusministerium, das dafür eine feste Summe bereitstellt.

Inzwischen erschienen drei neue Bände der „Documenta Choreologica“: einer mit Nachdrucken zweier Schriften des 18. Jahrhunderts von Louis Bonin und Meletaon, einer mit einem unveröffentlichten Manuskript Fritz Böhmes (Rudolf von Laban und die Entstehung des modernen Tanzdramas), und ein weiterer ist der Katalog der Ausstellung „Die Ballets Russes in der Berliner Kunst“. Dass die Texte von Bonin („Die Neueste Art zur Galanten und Theatralischen Tantz=Kunst“) und Meletaon („Von der Nutzbarkeit des Tantzens“) zu einem Band zusammengefasst wurden, beruht auf einem Zufall. Ursprünglich sollten sie separat publiziert werden, doch als Claudia Jeschke die zur Vorlage für den Nachdruck bestimmten Exemplare in der Bibliothek der Landesschule Pforta in Bad Kösen bei Naumburg abholen wollte, entdeckte sie, dass die beiden Traktate zusammengebunden waren. „Das war der Wink des Schicksals“, meint die Wissenschaftlerin.

Tatsächlich besteht zwischen den zwei Autoren auch ein direkter persönlicher Bezug: Von dem barocken Vielschreiber Johann Leonhard Rost (1688-1727), der unter dem Pseudonym Meletaon publizierte, stammte das Vorwort für Bonins Werk; Meletaon war zu jener Zeit an der Universität Jena immatrikuliert, an der Bonin seit 1707 als Tanzmeister wirkte. Der Franzose Bonin (gestorben 1716; Geburtsjahr unbekannt), der 1704 nach Sachsen übersiedelt war, beschreibt in seiner „Tantz=Kunst“ sein individuelles Repertoire an Schritten, Sprüngen und Tänzen, die dazugehörige Kleidung und das entsprechende sittlich korrekte Verhalten sowie Prinzipien der Theatralisierung. Darüber hinaus dokumentiert Bonins Traktat das Bemühen, den Tanz im (deutschen) Bürgertum zu etablieren – als Kunst, die sich vom vermeintlich triebgesteuerten Tanzen der niederen Stände unterscheidet und daher allgemeine gesellschaftspolitische Relevanz beanspruchen kann. Den persönlichen Nutzen des Tanzes unterstreicht auch Meletaon; er beschäftigt sich allein mit Gesellschaftstanz und betont die Bedeutung, die dem kunstvollen Tanzen im bürgerlichen Kontext zukommt – ein neues gesellschaftliches Bewusstsein manifestiert sich im Nacheifern des höfischen Ideals.

Stehen die Texte von Bonin und Meletaon ganz in der Petermannschen Tradition der“Documenta Choreologia“, so verdeutlicht die Publikation von Böhmes 1949 abgeschlossener Schrift „Rudolf von Laban und die Entstehung des modernen Tanzdramas“ die gewandelte Reihenkonzeption, zu der auch die Aufnahme von unedierten Manuskripten und Sammelbänden wie dem Ausstellungskatalog gehört. Im Fall Böhmes kommt hinzu, dass sich der Nachlass des Tanzkritikers (1881-1952) zu einem Gutteil im Tanzarchiv Leipzig befindet. Insofern lag es nahe, einen bislang nur dem Titel nach bekannten Text des Autors herauszubringen – der zudem einen wichtigen Beitrag zur Laban-Rezeption in Deutschland darstellt.

Seit 1919 für das Feuilleton der Deutschen Allgemeinen Zeitung und anderer Tageszeitungen tätig, erlebte Böhme das Aufblühen des Ausdruckstanzes und seine sinkende künstlerische Signifikanz in den 30er und 40er Jahren unmittelbar mit. Laban lernte er 1923 persönlich kennen; schon Böhmes Schilderung dieses Ereignisses zu Beginn des Traktats verrät, wie sehr ihn Laban in jeglicher Hinsicht beeindruckt hat. Für Böhme war Laban – so wie für Hans Brandenburg, den anderen großen publizistischen Förderer des Ausdruckstanzes – eine messianische Gestalt, die durch eine neue, gemeinschaftliche Form von Tanz das Regulativ zu einer aus den Fugen geratenen modernen, individualistischen Welt schaffen würde.

Bewunderung und Verehrung kennzeichnen Böhmes Schrift: Der Autor fasst Labans künstlerischen Werdegang zusammen, geht ausführlich auf Labans Manifest „Die Welt des Tänzers“ (1920) ein, beschreibt die Bedeutung von Labans Tanznotation und charakterisiert dessen choreografisches Werk vor dem Hintergrund der Entwicklung des Ausdruckstanzes. Böhmes Schilderung endet um das Jahr 1930 – und man bleibt voll Neugierde darauf, was der Autor denn über Labans Zeit als Ballettdirektor der Berliner Staatsoper (1930-34) oder über seine Tätigkeit in nationalsozialistischen Organisationen (unter anderem, allerdings nur für wenige Monate, gemeinsam mit Laban an der Spitze der „Deutschen Meisterstätten für Tanz“) zu sagen gehabt hätte.

Bereits auf den ersten Blick überzeugen die zwei Bände der wiederaufgenommenen Reihe: Rote und schwarze Linien gliedern das zeitgemäß gestaltete Cover; die Typografie ist gelungen. Als besonders nützlich muss der Anhang des Böhme-Bandes gelten: Marina Dafovas Einführung fasst Böhmes Leben prägnant zusammen, und Anmerkungen zum Text, Werkverzeichnis Labans sowie Auswahlbibliografien Labans und Böhmes – alle ebenfalls von Marina Dafova, von 1989 bis 1992 wissenschaftliche Mitarbeiterin des Tanzarchivs Leipzig – sind hilfreiche Apparate für alle, die sich mit den beiden Persönlichkeiten beschäftigen. Sehr verdienstvoll sind im Bonin-Meletaon-Band die biografischen Artikel von Aune Renk (bis 1995 Leiterin des Archivs Darstellende Kunst der Berliner Akademie der Künste) bzw. Marina Dafova, während das Nachwort von Stephanie Schroedter (Institut für Musikwissenschaft der Universität Salzburg) leider allzu kompilatorisch bleibt.

Louis Bonin: Die Neueste Art zur Galanten und Theatralischen Tantz=Kunst, Frankfurt a. M./Leipzig 1712, u. Meletaon: Von der Nutzbarkeit des Tantzens, Frankfurt a. M./Leipzig 1713, Nachdruck: Edition Hentrich, Berlin 1996, 696 S., DM 58,- Fritz Böhme: Rudolf von Laban und die Entstehung des modernen Tanzdramas, Edition Hentrich, Berlin 1996, 247 S., Abb., DM 36,-

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