Vom Sehen bis zum Denken

Zum Tanzabend „Die Solisten“ in der Heidelberger Hebelhalle

Der zeitgenössische Tanz lebt vom gekonnten Spiel mit der Seh-Erwartung der Zuschauer. Der Gastspielabend „Die Solisten“ machte vor, wie unterschiedlich die Seh-Erwartung der Zuschauer produktiv herausgefordert werden kann.

Heidelberg, 23/09/2019

Anschauen dauert. Von dem Moment, indem ein Lichtteilchen die Netzhaut trifft, bis zur Verarbeitung im Gehirn vergeht Zeit. Es sind zwar nur Millisekunden, dennoch: Ein sich bewegendes Objekt bewegt sich in dieser Zeit weiter. Geht die Bewegung in die erwartete Richtung – wie etwa ein Auto auf der Straße, wird die Erwartung des Gehirns voll und ganz erfüllt: der nächste Seheindruck bestätigt die Vorstellung von der Bewegung. Bewegt sich ein Objekt aber plötzlich anders, dann wird das Gehirn vor die Herausforderung gestellt, die Seh-Erwartung und den neuen Seheindruck abzugleichen. Unter anderem lebt der zeitgenössische Tanz vom gekonnten Spiel mit der Seh-Erwartung der Zuschauer - in ganz unterschiedlichen Variationen.

„Die Solisten“ in der Heidelberger Hebelhalle machten bei ihrem Gastspielabend vor, wie unterschiedlich die Seh-Erwartung der Zuschauer produktiv herausgefordert werden kann. Tänzer und Choreograf Daniele Ninarello (der unter anderem mit Sidi Larbi Cherkaoui getanzt hat) hat sich dafür eine sehr eigene Bewegungssprache entwickelt. Für seine Improvisation „Non(leg)azioni“ ließ er die Hände so schnell kreisen, dass den Zuschauern nicht genug Zeit zwischen Wahrnehmung und Verarbeitung blieb; die einzelnen Hand -und Fingerbewegungen schichteten sich als Bewegungslinien übereinander. Sein gänzlich improvisiertes Stück, in dem die Erkundung der Bühne großen Raum einnimmt, war spannend mit kleinen Längen.

Gabriele Ceceña, zuhause in Mexiko, fesselte das Publikum dagegen mit Langsamkeit. Im Sitzkreis auf dem Tanzboden ganz dicht am Geschehen, wurde für die Zuschauer jede kleinste Veränderung von Gestik und Mimik der Tänzerin offensichtlich. In „De ejes“ spürt sie der Zerbrechlichkeit aktueller Identität nach, von „Null Bock“ zu „ziemlich ratlos“: mit sprechenden Gesichtsausdrücken, scheinbar unbeholfenem seitlichen Kippeln auf den Turnschuhen, mit unerwarteten Balance- und Stimmungswechseln.

Marta Altstadsæter und Kim-Jomi Fischer legten sich dagegen mit Schwerkraft, Fliehkraft, Bremskraft und Beschleunigung an, um die Gehirne der Zuschauer erfolgreich in Aktion zu versetzten. Akrobatik ist spannend, dramatisch und spektakulär – dass diese Ausdrucksform auch höchst poetisch sein kann, zeigte das wunderbar eingespielte Duo im preisgekrönten Erfolgsstück „Engel“. Der somnambule Gesichtsausdruck der Norwegerin und die schlafwandlerische Sicherheit, mit der sie nicht nur das Gleichgewicht hält, sondern förmlich an ihrem Partner klebt: das sind Bilder, mit denen gängige Seh-Erwartungen aufs Schönste unterlaufen wurden.

Für das Programm verantwortlich war der Heidelberger Dozent und Choreograf Paolo Amerio, Ex-Tänzer bei Nanine Linning und offenbar bestens in der Tanzszene vernetzt. Das Format – dem Tanzabend gingen Workshops der beteiligen Künstler voraus – stieß auch im zweiten Jahr auf reges Interesse und hat offensichtlich das Zeug zur Institution.

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