„Surrogate Cities“ von Heiner Goebbels, Gesang: David Moss

Großstadtsounds

Ein Orchester-Education-Project am Stadttheater Gießen

Bislang wurde "Surrogate Cities", das als wichtigstes Werk von Heiner Goebbels gilt, vor allem international aufgeführt. Nun war es erst- und einmalig in Gießen zu sehen, der Stadt, an deren Uni der Komponist und Theatermacher 19 Jahre lang lehrte.

Gießen, 25/09/2018

Bislang wurde „Surrogate Cities“ vor allem in Metropolen wie Berlin, London, New York, Stockholm oder zuletzt in Taipeh aufgeführt. Es gilt als das wichtigste Werk von Heiner Goebbels. Am 22. September war es erst- und einmalig in Gießen zu sehen, in der Stadt, an deren Universität der Komponist und Theatermacher Heiner Goebbels 19 Jahre lang als Professor für Angewandte Theaterwissenschaften lehrte. Seit dem Sommersemester ist er Pensionär und widmet sich wieder seinem eigenen kreativen Schaffen. Die Erlaubnis für die Aufführung seiner Komposition war gekoppelt an das Auftreten der beiden Gesangssolisten aus der Anfangszeit: Jocelyn B. Smith und David Moss.

Das Stadttheater Gießen hat sich, dank Förderung durch das Bundeskulturministerium, an die Großaufgabe des Orchester-Education-Projects herangewagt. Dafür waren einige Experten und Equipment von außerhalb nötig. Die Kooperation mit der Gesamtschule Gießen-Ost (GGO), die in diesem Jahr ihr 50-jähriges Bestehen feiert, geschah auch, weil sie eine riesige Sporthalle hat. Allein der technische Aufwand war immens, muss doch jedes Instrument mikrofoniert werden. Dafür war eine eigene Klangregie notwendig, die Norbert Ommer übernahm und mit Bravour meisterte.

Die Idee hatte Martin Spahr, zweiter Kapellmeister am Stadttheater, der das Philharmonische Orchester einmal mit allen bisherigen Gastmusikern zusammenbringen wollte. Die zweite Idee war die Vernetzung in die Stadtgesellschaft, damit weite Kreise der Bevölkerung mit zeitgenössischer Musik bekannt gemacht werden. Der szenische Teil wurde mit den kompletten Jahrgangsstufen 7 und 9 der GGO erarbeitet; das sind gut 250 Schüler*innen und Schüler.

Das Konzept stammt von Ballettdirektor Tarek Assam, der auch die szenische Gesamtleitung übernahm. Mit den ersten Trainings waren bereits Ende der vergangenen Spielzeit Mitglieder der Tanzcompagnie Gießen beauftragt (Laura Ávila, Caitlin-Rae Crook, Sven Krautwurst, Mamiko Sakurai, Magdalena Stoyanova, Gleidson Vigne), für die Gesamtproben kamen mit Paolo Fossa und Paul Julius weitere Profis hinzu. Das Bild der Großstadt wurde ergänzt durch die Mädchen aus dem von Abtin Afshar Ghotlie geleiteten Tanzkurs (K 12) und durch die Breaking-Einlagen, die er mit zwei Kollegen (Dominik Blenk, Markus Heldt) performte.

Der Hallenboden war wie ein Schachbrett unterteilt; das Orchester nahm den größten Raum in der Mitte ein. Der Sound der Großstadt stand damit eindeutig im Mittelpunkt der 90-minütigen Aufführung. „Surrogate Cities“ hat 18 Kompositionsteile, und jedes Teil erhielt eine eigene Performance durch eine der Gruppen, zunehmend gab es auch parallele Aktivitäten. Bei den letzten vier Teilen waren dann alle gleichzeitig auf dem Hallenboden. Eine echte Herausforderung, diese Massen in attraktiver Form in Bewegung zu setzen. Zusätzlich war rundum mit Kistenelementen allmählich eine kleine Stadt aufgebaut worden, was der Jugendclub des Stadttheaters einstudiert hatte (Choreografie Masae Nomura). Der Platz war also zusätzlich verengt.

Mit anderen Worten: Es war ständig etwas los; immer gab es irgendwo was zu gucken. Zu hören sowieso. Auch wenn man sich nicht immer sicher war, was man da eigentlich hörte und wo es herkam. Die Lichtkegel halfen nicht immer bei der Suche. So agierten die Breaker als Störenfriede eher im Dunkeln, wurden vom Publikum aber genau registriert und erhielten mehrfach Szenenapplaus, egal, was das Orchester gerade spielte. Für die klassischen Musiker, die anderes gewöhnt sind, war das sicher eine besondere Erfahrung.

Highlights des Abends waren die Songs, die von den Sängern vorgetragen wurden, auch mal beim Herumgehen inmitten der Tanzgruppen. Wobei man von Lied eigentlich nur bei dem jazzig-gefühlvollen Gesang von Jocelyn B. Smith sprechen kann. Das, was David Moss präsentierte, war Stimmakrobatik pur. Gesprächsfetzen, Schreie, Kiekser, Seufzen und Brüllen, alles vorgetragen mit purer Lebensfreude. Das dritte stimmliche Element kam vom Gießener Schauspieler Roman Kurtz, der Textzitate zum Thema Großstadt und Einsamkeit vortrug, natürlich genau eingefügt in den Sound.

Die Musik ist eklektizistisch, das heißt, Goebbels zitiert munter aus Traditionen der Musikgeschichte, teils stark verfremdet, kombiniert mit Geräuschen der Stadt. Die Choreografien nahmen Elemente der Titel auf, besonders deutlich bei Menuett/L'Ingenieur, wenn eine Brücke aus Menschen durch das Darüberlaufen eines Einzelnen quasi zum Einsturz gebracht wird.

Zumeist bewegten sich die Schülerinnen und Schüler in Reihen, die geöffnet und geschlossen, im Kreis laufend und einander durchdringend gezeigt wurden. Die Bewegungselemente waren insgesamt eher reduziert, auf untrainierte Körper abgestimmt, und beschränkten sich auf Arm- und Kopfbewegungen oder auf Hinlegen und Aufstehen, auf Drehen und Rollen. Die Disziplin stimmte, und schließlich zählt das Gesamtbild. Das wurde trotz der zahlreichen Einzelelemente (auch) dank Lichtregie zu einem stimmigen Ganzen (Tarek Assam, Klaus Nass). Der Abend war für alle ein Erlebnis der besonderen Art, für Profi- und Laien-Akteure, für Eltern und Lehrer, für alle Organisatoren im Hintergrund, und für das Publikum, das begeistert applaudierte.

 

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