„53ºNord Völker wandern“ von Lars Scheibner
„53ºNord Völker wandern“ von Lars Scheibner

Deutsche Tanzkompanie Neustrelitz als kulturpolitisches Bauernopfer?

Nach 25 Jahren soll die Tanzkompanie Neustrelitz aus Kostengründen aufgelöst werden

„Das Einzige, was ein Land überlebt, ist seine Kultur. Lasst niemals Eure Kultur sterben“, plädieren syrische Flüchtlinge zu Beginn des neuen Tanzabends passend.

Neustrelitz, 29/04/2016

„Deutschland ist ein Tanzland“, so Bundespräsident Joachim Gauck zur Eröffnung des Tanzjahres 2016 im Schloss Bellevue vor zahlreichen Vertretern der Tanzszene. Die Tanzplattform in Frankfurt/Main, die Tanzmesse Düsseldorf und der Tanzkongress in Hannover werden wichtige Impulse geben. Eine breite freie Szene, Jung und Alt in diversen Genres im Freizeitbereich, Tanz in Schulen und natürlich Tanz in 60 festen Kompanien an bundesdeutschen Theatern sind ein kultureller Schatz in Bewegung. Doch kulturpolitisch erzwungene Fusionen der Landespolitik in den letzten Spielzeiten haben den Rotstift besonders an die Sparte Tanz gelegt.

In Mecklenburg-Vorpommern ist die vom Kultusministerium unter Minister Mathias Brodkorb (SPD) in dieser Legislaturperiode betriebene Theaterreform für ein „Staatstheater Nordost“ mit einschneidenden Veränderungen für das kulturelle Angebot und die Beschäftigten verbunden. Landesmittel sollten nur bei Umstrukturierungen weiter gewährt werden, die Kommunen und Theaterleitungen wurden unter dieser landespolitischen Drohkulisse erpressbar. Stellenabbau wurde eingefordert. Es gab Anhörungen, Alternativvorschläge, Protestdemos, Lichterketten; ein langer kräftezehrender Prozess, der auch mit Entsolidarisierung einhergeht. Seit 1994 sind die Zuschüsse des Landes für die Theater und Orchester in Schwerin, Rostock, Stralsund, Greifswald, Neubrandenburg und Neustrelitz auf 35,8 Mio. Euro jährlich eingefroren. Die Differenz zu den angestrebten Tarifen liegt bei 12-20%. Bei steigenden Ausgaben und unterfinanzierten Kommunen ist dies der Hauptgrund für den Stellenabbau. Die Theaterbelegschaften im Land Mecklenburg-Vorpommern wurden halbiert. 1997 wurde das Ballettensemble des Landestheaters Neustrelitz aufgelöst. Für das ab 2018 geplante „Staatstheater Nordost“ sollen in Neustrelitz ein Musikalisches Schauspiel, die Schlossgartenfestspiele (ohne Chor und Tänzer) und die Zentralwerkstätten verbleiben. Die Zukunft der Deutschen Tanzkompanie ist völlig ungewiss.

Der Historiker Marco Zabel, Direktor des Fritz-Reuter-Literaturmuseums Stavenhagen, engagiert sich mit vielen Mitstreitern als langjähriges Mitglied und Vorsitzender des Fördervereins Landestheater Neustrelitz und im überregionalen Theaternetzwerk Mecklenburg-Vorpommern für den nachhaltigen Erhalt des kulturellen Angebots. „Für mich ist Neustrelitz eine Theaterstadt mit vier Sparten. Die darf man nicht auseinander dividieren. Dafür kämpfen wir seit Jahren. Im Sommer 2015 haben 4000 der 16 000 wahlberechtigten Einwohner mit ihrer Unterschrift für den Erhalt der Deutschen Tanzkompanie votiert; doch ein Bürgerbegehren wurde von der Stadt mehrheitlich nicht zugelassen. Damit wurden viele Neustrelitzer gleichsam entmündigt. Neustrelitz gibt sich als Stadt mit 20 000 Einwohnern kulturell selbst auf. Ohne die Künstler in drei Sparten und die Deutsche Tanzkompanie wird die Stadt nur noch Provinz sein. Ihr saniertes Theater wird nicht mehr in die Stadt hineinwirken. Die künstlerischen Inhalte sind ebenso wie die angedachte ‚bedarfsgerechte Bespielung’ völlig unklar. Eine sozialdemokratisch geführte Landesregierung schickt viele Menschen in die Arbeitslosigkeit. Am 7. März haben künstlerisch Beschäftigte und Theaterförderer Minister Brodkorb in Neustrelitz 1000 Protestkarten für den Erhalt des Theaters und der kulturellen Vielfalt übergeben. Empörung und Fassungslosigkeit erntete die Äußerung des Ministers, dass das für die Deutsche Tanzkompanie 2017 verplante Geld gebraucht würde, ‚um Lücken bei der Fusion zu schließen’. Die Liquidation der Deutschen Tanzkompanie Neustrelitz im 25. Jahr ihres Bestehens soll offenbar noch vor den Landtagswahlen vollzogen werden. Das ist ein Skandal.“

Die Deutsche Tanzkompanie Neustrelitz (DTK), 1991 als privatrechtliche gemeinnützige Stiftung gegründet und seit 2010 Tochtergesellschaft der Theater und Orchester GmbH Neubrandenburg/Neustrelitz, soll nun mit ihren 25 Mitgliedern ein Bauernopfer bringen. Würde der Landeszuschuss von 950 000 Euro pro Jahr ab 2016 nicht mehr zweckgebunden ausgezahlt werden, wäre dies das politisch verfügte Aus für die national und international erfolgreich tanzenden Botschafter Mecklenburg-Vorpommerns. Die angedrohte Aufkündigung der Gesellschaftervereinbarung zum Ende der Spielzeit ist um einen Monat bis Mai zurückgestellt. Um die notwendigen Zuschüsse des Landes zu minimieren (!), soll nun eine Reihe von Kommunen jeweils anteilig einen Zuschuss leisten. Das, so die vage Hoffnung, könnte die Weiterexistenz der Deutschen Tanzkompanie außerhalb der Theater und Orchester GmbH ermöglichen.

Am 8. April zeigte die DTK im ausverkauften Landestheater Neustrelitz die mit Szenenbeifall und stehenden Ovationen gefeierte Uraufführung „53ºNord Völker wandern – Ein Tanzfest“. Zuvor hatten junge Leute vor dem Theater mit Plakaten gegen den Kulturabbau für den Erhalt ihres Mehrspartentheaters und ihrer Deutschen Tanzkompanie geworben. Choreograf Lars Scheibner, Ausstatter Robert Pflanz und Autor Oliver Hohlfeld führen die dreizehn Interpreten in einen pausenlosen „Strom von Wanderbildern“ – Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Hier mischen sich Menschheitsfragen und privates Glück in tradierten Tänzen, Volksliedern, in Weltmusik und Sprache. Ein kontrastreiches emotionales Plädoyer für Veränderung, dessen verblüffende Perspektivwechsel den Dialog mit dem Publikum anregen. Es wird ganz still, als vier syrische Bootsflüchtlinge zu Beginn überraschend an die Rampe treten: „Wir versuchen zu überleben in einem neuen Land, in einer neuen Kultur. Für uns ist das eine neue Chance. Das Einzige, was ein Land überlebt ist seine Kultur. Lasst niemals Eure Kultur sterben.“ Zur Eurohymne beschenken sie Besucher mit Grünpflanzen und tanzen Hand in Hand, akklamiert vom Publikum. „53ºNord Völker wandern“ mit seinen choreografisch-inszenatorischen Amplituden ist ein packenden Tanztheaterabend. In den aufwühlenden Tanz als Leben feiernden Schlussmonolog von Axel Rothe, der den Tanz als Leben feiert, rieseln Flugblätter in den Zuschauerraum: „Heul doch! Seit 52 Jahren gibt es Tanz in Neustrelitz. Heute ist Deutschland so arm, dass es sich das nicht mehr leisten kann.“

Die Tänzerinnen, Tänzer und Mitarbeiter der Deutschen Tanzkompanie Neustrelitz wissen seit Monaten nicht, ob es weitergeht. Doch sie tanzen mit vollem Einsatz gegen das Ende der Bewegung an, so auch am Welttanztag, 29. April, im Schauspielhaus Neubrandenburg.

Kommentare

Noch keine Beiträge