Auf nach Mühlheim a.d. Ruhr!
Auf nach Mühlheim a.d. Ruhr!

Bewegungen des Publikums

Blog über Tanz am Eröffnungswochenende des Impulse-Festivals

tanznetz.de ist vor Ort auf der Biennale der freien Theaterszene

Köln, 29/06/2013

von Miriam Althammer, Anna Donderer und Anna Wieczorek

Live-Kritik: Perspektive Inside

Macbook, Kopfhörer und ein Screen. Das ist die Ausrüstung für meine Live-Kritik, in der ich direkt nach Jérôme Bels „Disabled Theater“ meine unmittelbaren Eindrücke festhalten soll. Über einen Screen der Chez Icke-Bar teile ich mit den Zuschauern meine Gedanken, mein Ringen um Worte, stelle mich selbst aus. Treibe den kollektiven Diskurs nach der Vorstellung an, werfe meinen Text in die Diskussion. Finger fliegen über die Tastatur, ein schnelles Nippen am Weinglas – 30 Minuten können verdammt kurz sein – und gerade bei Jérôme Bels Stück in Zusammenarbeit mit Theater HORA – zehn Schauspielern mit geistiger Behinderung – kann man sich schnell in die Bredouille bringen. Jedes Wort klingt irgendwie falsch und öffnet einen weiteren Zwiespalt. Was ist eigentlich das Eigene, und was das Fremde? Als Zuschauer wehrt man sich dagegen, Differenzen aufkommen zu lassen, sich abzugrenzen vom Bühnengeschehen und den sichtbar anderen – nicht der Norm entsprechenden – Körpern. Gleichzeitig gibt es da die unüberwindbare Trennlinie zwischen diesen Schauspielern und dem Publikum auf dem Beobachterposten. Ja, wie Tiere im Zoo, dieser Gedanke kommt einem immer wieder mal in den Sinn, werden sie in Jérôme Bels Geflecht aus Repräsentationspraktiken gezeigt, unklar, wieviel Entscheidungsmöglichkeit sie tatsächlich haben. Und ja, es macht ihnen Spaß, sie wollen das Publikum belustigen. Doch sind die Lacher und das Klatschen Teilhabe an der unmittelbaren Freude der Behinderten oder manchmal auch das unverhohlene Amüsieren über das Abnormale wie bei einem peinlichen YouTube-Video? Unsicherheit macht sich breit, verstohlen blickt man zum Nachbarn und kann kaum mehr Position beziehen.


Live Kritik Perspektive Outside

„Zoo“ – Kaum haben die zwei begonnen zu schreiben steht auf beiden Bildschirmen das selbe Wort. Vielleicht fällt das auch nur auf, weil es im eigenen Kopf noch so festhängt. Den Abend so frisch im Gedächtnis, läuft die eigene Diskussion parallel zu den Gedanken der Live-Kritikerinnen. Hin und her geht es da und jedes Wort, wirft einen neuen Gesprächsstoff hervor und verlangt nach oder verflucht Anführungszeichen und political correctness. „Darf ich klatschen? Darf ich laut lachen?“ steht auf dem einen und „Darf man lachen? Wann applaudiert man?“ auf dem anderen Bildschirm geschrieben. Über die Fragen des Abends sind wir uns einig.


Zum Körperzustand einer Zuschauerin am Tag 2

Auf dem Weg von Köln nach Mühlheim - Enge. Fünf Personen – ein Nissan Micra. Stau. Stehen an der Bar in Mühlheim mit Kaffee. Beim Auftritt der ersten Schauspielerin von Theater Hora/Jérome Bel’s „Disabled Theater“, die für eine Minute vor dem Publikum steht, stellt sich Körperanspannung ein. Je mehr der Schauspieler ihren einminütigen Auftritt absolvieren, desto stärker wird die Aufmerksamkeit der eigenen kleinen Bewegungen. Arme verschränkt oder locker fallen lassen, Füße übereinander schlagen, nicht schon wieder wechseln. Ein Gefühl des Beobachtet-Seins flutet den Körper und setzt nicht aus bis die Vorstellung zu Ende geht. Dazwischen wippen zum Takt der Popsongs. Außerdem manchmal euphorisches Mitfühlen der Tanzsoli.

Nach der Performance wird bei „Chez Icke“ von zwei Journalistinnen parallel zwei Livekritiken verfasst. Stehen mit Blick auf die Bar, möglichst mittig zwischen den beiden Bildschirmen, damit sich nur der Kopf wenden muss, um das Fortkommen von beiden Schreiberinnen mitzuerleben.

Verspätet dann zu Showcase Beat le Mot, wie gewohnt in solchen Situationen leises Hineinschleichen. Nach kurzzeitigem Stehen an der Seite der voll besetzten Zuschauertribüne folgt der Entschluss, sich doch auf einem der auf oder neben der Spielfläche befindlichen Sofas niederzulassen. Schon wieder Beobachtung. Dann beginnt erst zögerlich und bald radikal eine Wanderschaft der Zuschauer von der Tribüne hinunter zur Couchlandschaft. Der Beat setzt sich tief im Körper fest, während langsam aber stetig Entspannung einsetzt. Wege werden gegangen, um Getränke, Suppe und Blickwechsel zu finden. Raus aus „Alles“, rein in die „Chez Icke“ Box und tanzen für den Köln-Live-Stream.


„Das alles hier...

...hätten wir auch einfacher-“ Ja wahrscheinlich hätte „Alles“, so der Titel der vierstündigen Performance von Showcase Beat Le Mot, auch einfacher sein können. Aber das komplexe Zusammenspiel der verschiedenen Textfragmente, dem aufwändig (selbstbewegten) Bühnenbild, von Zaubertricks und Schattenspiel lädt dazu ein, in der Komplexität die Einfachheit wieder zu finden.

Die Dramaturgie dieses Abends spinnt sich, dreht sich, windet sich und packt sich am Ende am eigenen Anfang. Die fünf Performer streifen in ihrem selbsterbauten Holz-Maschinen-Wunderland umher - Mal geht einer hier, mal dorthin, macht hier Musik oder dort ein Schattenspiel, zieht sich um und schlüpft in eine Rolle, um sie im nächsten Moment wieder abzustreifen. Große Fragen des Lebens werden aufgeworfen und wieder fallengelassen. Wie macht man aus Scheiße Gold? Wie haucht man einen Lehmkluppen Leben ein? Und: wie baut man ein Perpetuum Mobile? Das „Alles“ passt gut zusammen und verliert sich doch dauernd in der eigenen Dynamik. So zeigt sich die Sehnsucht nach dem Perpetuum Mobile nicht nur in den Holzskulpturen, die fortwährend sich selbst und den Raum um sich herum bewegen, sondern vor allem im Ablauf/Fortlauf/Zusammenlauf der einzelnen Stückfragmente - die von selbst zu fließen beginnen, sobald sie einmal in Bewegung gebracht wurden.

Der Tag zwei von Impulse steht im Zeichen der Bewegung des Publikums.
 

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